Sodbrennen

Kapitel 1

In alten Fotos zu kramen, ist genau die richtige Beschäftigung für graue Wintertage wie diesen, denke ich, während ich mich strecke und mühsam den alten, weißen Schuhkarton vom obersten Regal des Schlafzimmerschrankes herunterziehe.
Ein mausgrauer Kaschmirpullover der obenauf liegt, fällt herunter, mir mitten ins Gesicht, und weil ich nicht schnell genug nach ihm greife, auf den Parkettboden.
Ich bücke mich. Magensäure kriecht durch meine Speiseröhre. Auch das ist bald vorbei. Ich schlucke, hebe ihn auf, falte ihn ordentlich zusammen und werfe ihn, entgegen meiner üblichen Korrektheit, schwungvoll wieder zurück.
Das orangefarbene Wort – PHOTOS – das ich irgendwann passenderweise quer über den Deckel des Schuhkartons geschrieben habe, sticht mir förmlich in die Augen und ich erinnere mich an das, was ich dachte, als ich den Karton beschriftete. Nur eine Übergangslösung. Sobald ich Zeit habe, klebe ich die Fotos in entsprechende Alben. Das ist jetzt über dreißig Jahre her. Den Karton hole ich zwar ab und an mal herunter, aber nur um neue Fotos hineinzulegen.
Noch einmal lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen, über die weiß gestrichenen Möbel, all die kleinen Dekorationsstücke, die ich voller Freude aus unzähligen Orten dieser Welt zusammengetragen habe, um sie hier liebevoll zu platzieren. Zuletzt über das Bett, in dem ich sinnlich romantische, zu meist erholsame, aber auch von Sorgen und Kummer belastete, schlaflose Nächte verbracht habe. Das Bett, in dem ich nie wieder liegen werde. Ich atme den süßlich frischen Geruch des Weichspülers, der in der frisch bezogenen Bettwäsche haftet, und den erotisch angehauchten meines Lieblingsparfüms, der wie ein zarter Schleier über allem hängt.
Dieses erdrückende Gefühl der Einsamkeit, das mich während der letzten Tage allzu oft heimgesucht hat, stellt sich auch jetzt wieder ein und schnürt mir die Kehle zu. Mit hängendem Kopf begebe ich mich ins Erdgeschoss. Gebeugt, als trage ich die Last der ganzen Welt, gehe ich die Diele entlang zu meinem Lesezimmer, das mir jahrelang als Büro, jedoch auch als Ort der Erholung und Besinnung gedient hat.
Ich fühle mich leer und ausgebrannt. Immer noch verschleiern Tränen meinen Blick, den ich nun zur vollgestopften Bücherwand lenke. Literatur, während all der Jahre zu Recherchezwecken zusammengetragen. Dann zum antiken Schreibtisch, den der Flachbildmonitor und eine verchromte Tastatur zu entweihen versuchen, was ihnen jedoch nicht wirklich gelingt – mein Arbeitsplatz.
Kaum merklich vor mich hinlächelnd, setze ich mich auf die mit weinrotem Leder bezogene englische Couch. Den Karton stelle ich auf meine Knie und öffne ihn.
Zuoberst liegen die Aufnahmen vom letzten Sommer. Urlaub auf Rügen. Ein Gefühl von Wehmut breitet sich in meiner Brust aus. Wahllos grabe ich etwas tiefer und ziehe einige Fotos heraus. Eines, schon ein wenig verblichen, auf dem meine verstorbenen Eltern zu sehen sind und ein weiteres, auf dem ich mit der bunten Einschulungstüte im Arm vor der alten Schule stehe. Ich erinnere mich noch genau an die lachsfarbene Strickjacke, die ich an diesem Tag trug, und das blumenbedruckte Kleidchen. Das nächste Foto wurde an Ostern vor unserem Haus in Geroldstein geschossen. Unschwer an meiner rechten Wange zu erkennen, dass ich mir ein ganzes Osterei in den Mund geschoben habe.
„Ha!“ Da ist sie ja, die einzigartige Aufnahme, die mich wie keine andere an meine Kindheit erinnert. Nicht, weil es ein Foto aus jener Zeit ist, das sind andere auch, nein, weil es etwas in meinem Herzen bewegt, das mir das Wasser in die Augen treibt, weil es mich traurig stimmt und gleichzeitig zum Lachen bringt. Mit der rosaroten Brille auf der Nase, in deren Gläsern sich ein Teil der Umgebung spiegelt, und dem unmöglichen Haarschnitt, der eher einem Helm denn einer Frisur ähnelt, sehe ich mehr als komisch darauf aus. Mütter sollten ihren Kindern nur dann die Haare schneiden, wenn sie den Beruf des Frisörs entweder erlernt oder zumindest ein besonderes Talent dafür haben. Meine hatte weder das eine noch das andere, dafür aber ein echtes Problem mit meinem Pony. Mehrere Versuche waren nötig, ihn einigermaßen gerade hinzukriegen. Das Resultat – viel zu kurz. Aber das war dann ja mein Problem. Mein einziger Trost bestand in der Gewissheit, dass die Fransen wieder wachsen würden.
Unwillkürlich fahre ich mit den Fingern durch mein langes, volles, wegen der silbergrauen Strähnen mittlerweile schwarz gefärbtes Haar, streiche es aus der Stirn und lächle vor mich hin.
Diese Szene, das was ich hier mache, könnte der Anfang eines neuen Romans sein. Ein Gedankenblitz, den ich sogleich verwundert, überhaupt daran gedacht zu haben, weit von mir schiebe, denn ich habe keine Lust mehr zu schreiben. Im Grunde habe ich zu nichts mehr Lust, am wenigsten auf das Leben selbst. Ach, Richard! Ich seufze. Alles ist so sinnlos geworden, jetzt da du gegangen bist. Das Haus ist viel zu groß für mich allein und jeder Winkel, jedes noch so kleine Detail erinnert mich an dich. Erneut seufze ich, lege die Fotos zurück und schließe den Karton. Wozu habe ich den Kasten überhaupt runtergeholt? Etwa weil ich irgendwo im hintersten Winkel meines Gehirns annahm, in alten Erinnerungen zu kramen könnte mich von meinem Entschluss abbringen?
Müde erhebe ich mich, begebe mich zur Terrassentür und ziehe die Gardine beiseite. Ein letztes Mal betrachte ich meinen geliebten Garten, der zurzeit verborgen unter einem weißen Tuch aus frisch gefallenem Schnee auf den kommenden Frühling wartet so wie jeden vergangenen Winter.
Wartet? Wartet er wirklich? Liegt brach da, einfach so, lässt den lieben Gott einen guten Mann sein, sinniere ich und senke den Blick, erholt sich und wartet? Zumindest hat es den Anschein. Nun ja, die Pflanzen nutzen diese Ruheperiode, um Kraft zu sammeln, während sie sich gleichzeitig auf das neue Leben vorbereiten, das im Frühling aus ihnen heraussprießen wird. Etwas, das die meisten Menschen in dieser schnelllebigen Zeit verlernt haben. Ja, sinniere ich nickend und werfe, bevor ich mich kläglich lächelnd abwende, einen letzten Blick hinaus, heute ist ein guter Tag zum Sterben.
Ich wende mich dem Glas mit der bronzefarbenen Flüssigkeit zu und den Schächtelchen mit dem todbringenden Inhalt. Schlaftabletten.
Ursprünglich wollte ich mir in der Badewanne die Pulsadern aufschneiden. Allein schon die Vorstellung einer aufgedunsenen Leiche in blutgetränktem Wasser und der Blutlache, die sich unter dem eventuell aus der Wanne hängenden Arm bilden würde, bereitete mir Übelkeit. Zumal ich diesen Abgang auch für allzu dramatisch halte. Außerdem hasse ich es, eine Schweinerei zu hinterlassen. „Das Haus muss ordentlich sein, bevor ich es verlasse. Könnte ja sonst was passieren.“ Jahrelang weigerte ich mich sehr bewusst, diese Philosophie meiner Mutter anzuerkennen und letztendlich sogar anzunehmen. Manchmal machte ich die Betten nicht, bevor ich das Haus verließ. Kissen, die ich im Vorübergehen noch schnell ordentlich aufstellte, warf ich wieder durcheinander und in der Küche blieb oft ein einzelnes Glas oder eine Tasse auf der Spüle stehen.
Unmerklich schüttle ich den Kopf und sehe mich um. Alles ordentlich.
Ich schalte das Radio an, drücke die Open/Close-Taste für das CD-Laufwerk und lege eine CD ein. Einschmeichelnde Musik zum Einschlafen, zum Hinübergehen, muss schon sein. Noch einmal drücke ich auf die Open/Close-Taste, warte bis das CD-Laufwerk wieder geschlossen ist und drücke auf „Play“. Das Violinkonzert von Vivaldi erklingt.
Soll ich jetzt? Suchend sehe ich mich noch einmal um. Habe ich auch nichts vergessen? Verneinend schüttle ich den Kopf, trete an meinen alten Ohrensessel, den ich von Oma geerbt habe, streichle über die Rücken- zur Armlehne und lächle.