Das Brautkleid

Kofferversteigerung der Bahn in der Bad Godesberger Stadthalle. Anna Marie möchte endlich einmal an solch einem Ereignis teilnehmen. Doch als auf einer Kleiderpuppe ein Brautkleid gezeigt wird, ist sie hin und weg. Nach einem kurzen Bietergefecht erhält sie den Zuschlag.

„Sie schulden mir etwas“, sagte plötzlich eine männliche Stimme hinter ihr.
„Wie bitte?“, fragte Anna Marie, als sie sich dem Fremden zuwandte, der sie um Haupteslänge überragte. „Ich wüsste jetzt aber nicht, weshalb ich Ihnen …“, sagte sie, verstummte jedoch, bevor sie den Satz zu Ende brachte. Kein Lächeln verzauberte den Moment, als sie direkt in glasklare, stechend blaue Augen blickte. Nicht einmal in den Augenwinkeln war die geringste Spur davon zu finden. Obwohl es Anna Marie einen Moment eiskalt über den Rücken lief, gelang es ihr nicht, sich einer gewissen Anziehung zu erwehren.
Da hob sich die linke Augenbraue des – zugegeben – überaus gutaussehenden Fremden etwas an. „Ich habe Ihnen das Brautkleid überlassen“, bemerkte er.
„Ach? Haben Sie das? Na gut, dann …“

Sie lässt sich darauf ein, mit dem Mann im nahen Trinkpavillon einen Kaffee zu trinken. Nach einem sehr netten Gespräch verabschieden sie sich und sie geht davon aus, dass sie diesen Mann … leider nie wieder sehen wird. Was meinen Sie? Diese Begegnung könnte doch der Beginn einer wunderschönen Liebesgeschichte sein.
Was Anna Marie zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß – die Kofferversteigerung wurde aufgezeichnet – das erfährt sie erst am Abend, als sie sich die Nachrichten im Fernsehen anschaut bei denen ausgerechnet der Ausschnitt der Übergabe gezeigt wird.
Am anderen Tag muss sie ein regelrechtes Spießrutenlaufen in der Firma überstehen. Jeder will wissen, wann die Hochzeit stattfindet.
Am Tag darauf läutet ein Paketzusteller, der ein Paket für Anna Marie abgeben will, bei ihrer Vermieterin.

„Na gut, ich komme.“ Da sie wusste, dass es die Leute von den Lieferdiensten immer eilig hatten, beeilte sie sich nun zur Haustür zu kommen, obwohl ihr die Situation Unbehagen bereitete. Doch kaum hatte sie die Haustür geöffnet, schob ihr der Mann, dessen Gesicht bis zur Nase vermummt war, das Paket äußerst brutal entgegen und sie selbst dadurch in den Hausflur zurück.
„Hey! Was soll denn das?“, rief sie ihm noch aufgebracht entgegen, ehe sie rückwärts taumelte, da sie nicht mehr so gut zu Fuß war und auch ihr Gleichgewichtssinn im Alter nachgelassen hatte. Zunächst wurde sie noch einen Augenblick von der Wand gestützt, doch als ihr bewusstwurde, dass es sich hier um einen Überfall handelte, sackte sie kraftlos in sich zusammen. Ihr Herz raste und die Angst schnürte ihr regelrecht die Kehle zu, während sie hektisch nach Luft schnappte. Ihr wurde schwindelig.
Der Mann hatte inzwischen eine Rolle silbernes Klebeband aus seiner Tasche gezogen, zerrte ein Stück herunter, riss es ab und beugte sich über die vor Angst zitternde und wimmernde alte Frau. Doch bevor er dazu kam, es ihr über den Mund zu kleben, fuhr ein Wagen in die Einfahrt des Hauses.
„Frau Zimmermann, guten Morgen“, rief der Postbote wenig später fröhlich grüßend, als er die offenstehende Haustür entdeckte und deshalb annahm, dass die alte Dame nicht weit sein konnte. „Ich habe Post für Sie.“
Offensichtlich etwas verwirrt, hielt der falsche Lieferant in seiner Bewegung inne, schaute sich hektisch um und zog es dann doch vor, das Weite zu suchen. Eilig stürmte er, den Postboten noch unsanft anrempelnd, aus dem Haus und auf den grauen Kastenwagen zu.
„Hallo!“, rief der Postbote empört, als er durch das heftige Anrempeln fast das Gleichgewicht verlor. „Frau Zimmerman! Um Gottes Willen, was war das denn?“ Er schaute noch einmal über die Schulter, konnte jedoch nur noch sehen, wie der Kerl in einen grauen Kleinbus stieg und eilig vom Hof fuhr.

Wenig später fährt ein Polizeiwagen auf den Hof. Die nehmen den Vorfall auf und besuchen auch Anna Marie in der Firma. Diese will ihrer Vermieterin etwas Gutes tun und fährt mit ihr zu ihren Eltern. Kaum dort eingetroffen erfährt sie, was es mit dem Brautkleid und mit dem Mann, den sie bei der Versteigerung kennenlernte auf sich hat.
Ich lese nun die Szene, bei der die Geschichte des Brautkleides begann …

In diesem Moment schlug die Türglocke erneut an und zwei Männer, die ihr Gesicht mit Skimasken verhüllt hatten, betraten hektisch den Salon.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Frau Elser (die Schneiderin) zunächst spontan und höflich wie immer. Doch beim Anblick der bis zu den Augen vermummten Gesichter erschrak sie so sehr, dass sie schnell wieder einen Schritt zurücktrat.
„Ja, das kannst du, Schätzchen“, brüllte der etwas kleinere Mann und fuchtelte mit der Waffe in seiner Hand. „In diesem Laden ist etwas, das wir haben möchten. Und ich denke, du weißt genau, was das ist.“ Um die Anweisung zusätzlich zu unterstreichen, zielte er auf Paul Stöver.
„Los, Beeilung!“, befahl nun auch der andere, etwas größere Mann und zog ebenfalls eine Waffe aus dem Bund seiner Jeans.
„Hey, das kann man doch friedlich regeln“, versuchte Paul die Männer zu beruhigen, indem er mit erhobenen Armen auf den Mann zuging. Eine Sekunde herrschte absolute Stille. Die drei Frauen blickten wie erstarrt auf Paul und die beiden Männer.
„Na klar“, entgegnete der mit der Waffe Fuchtelnde höhnisch, bevor er diese auf Paul richtete.
Und dann ging alles ganz schnell. Ein Schuss durchbrach die Stille.
Paul sah den Mann einen Augenblick ungläubig an, bevor er in sich zusammensackte.
„Hey! Was soll …“, entfuhr es dem etwas größeren Mann.
„Halts Maul!“, zischte der Schütze.
„Nein!“, schrie Clarissa auf, bevor sie neben ihrem Verlobten auf die Knie fiel und sich mit offenem Mund über ihn beugte, als wolle sie etwas sagen. Doch kein Laut kam über ihre Lippen. In ihren Augen lag pure Verzweiflung und gleichzeitig die Hoffnung, es könne nicht so schlimm sein, wie es aussah.
Paul starrte sie mit aufgerissenen Augen an. „Ich … liebe …“, hauchte er. Zu mehr war er nicht mehr fähig. Gurgelnd lief ein rotes Rinnsal über seine Lippen. Auf seinem Hemd und unter ihm bildete sich eine zusehends größer werdende Blutlache.
„Los! Hol endlich das Kleid“, forderte der Schütze die Schneiderin hektisch auf, während er demonstrativ mit seiner Waffe auf die hinteren Räume deutete. „Und du reiß dich zusammen“, wandte er sich zischend an seinen Begleiter.
„Paul, Paul“, jammerte Clarissa. Als sie erfasste, dass ihr zukünftiger Ehemann tot war, liefen Tränen der Verzweiflung über ihre Wangen. Einen Moment glaubte sie den Schmerz, der ihr Herz zu zerreißen drohte, nicht ertragen zu können. Doch dann bemerkte sie das Blut an ihren Händen und eine unbeschreibliche Wut packte sie.
Frau Elser eilte nach hinten zu der Umkleidekabine, wo das Brautkleid bereits im Kleidersack verstaut zur Abholung bereit hing, und nahm es vom Kleiderhaken. Genauso schnell lief sie zurück und streckte dem größeren Mann den Kleidersack entgegen, da dieser deutlich machte, dass er es entgegennehmen wollte.
Währenddessen erhob sich Clarissa und stürmte mit wutverzerrtem Gesicht auf den Schützen zu. In Anbetracht des Mordes an ihrem Geliebten, war ihr gleichgültig, was mit ihr geschehen würde. Sollte er sie doch ebenfalls erschießen.
Als Judit Odenbach jedoch die Tragweite des Vorhabens ihrer Tochter erkannte, trat sie ihr entgegen, um sie aufzuhalten.
In diesem Augenblick knallte ein weiterer Schuss.
Clarissa blickte wie hypnotisiert in die eiskalt wirkenden hellgrauen Augen des Mannes, ihre Hände krallten sich in die Oberarme ihrer Mutter, während diese mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht langsam erschlaffte wie zuvor Paul. „Neiiin!“, schrie Clarissa, während sie versuchte ihre Mutter festzuhalten, was ihr jedoch nicht gelang.
Der größere Mann hatte inzwischen das Kleid erhalten und stürmte aus dem Geschäft, gefolgt von dem anderen, der noch im Laufen mit seiner Waffe fuchtelte.

Wie das Kleid letztendlich zur Kofferversteigerung gelangte und weshalb Anna Marie als Lockvogel eingesetzt wird, erfahren Sie auf den nächsten Seiten. Es scheint ein Leichtes zu sein, das Brautkleid zu übergeben. Doch auf der Fahrt zur Übergabe mit Tommaso Giordano, dem Kriminalhauptkommissar vom BKA, geschieht etwas, mit dem niemand gerechnet hat.

„Tun Sie einfach, als wäre meine Kollegin Ihre beste Freundin. Sie wird auf Sie zustürmen und Sie in den Arm nehmen. Wie das beste Freundinnen eben machen. Ich hoffe Sie haben keine Berührungsängste.“
„Nein, das geht schon in Ordnung“, meinte Anna Marie.
Plötzlich schlug er kurz, aber heftig auf das Lenkrad ein. „Maledetto!“, fluchte er auf Italienisch „Was ist denn da vorne los?“
„Eine Nebelwand quer über die Fahrbahn“, antwortete Anna Marie, als hätte er das nicht selbst gesehen.
„Ja, und die Autos stehen“, stellte er fest und trat sanft auf die Bremse, damit auch der Fahrer hinter ihm entsprechend reagieren konnte. „Da kommen wir nicht weiter. So ein Mist! Die Straße ist blockiert. Das hat mir gerade noch gefehlt.“
Schon einen Moment später geschah, was Tommaso bereits im Stillen befürchtet hatte. Ein überholendes Fahrzeug fuhr viel zu schnell an ihnen vorbei und krachte im nächsten Augenblick gegen ein bereits stehendes Auto.
„So ein Idiot“, zischte Tommaso und griff nach dem Mikro seines Funkgerätes. „Ben, hast du mich auf dem Schirm? Vor mir steht eine Nebelwand und soweit ich das erkennen kann, wurde dadurch bereits eine Massenkarambolage verursacht. Außerdem ist eben ein Wagen, der mich überholt hat, in den Wagen vor ihm geknallt. Ich komme hier nicht weiter. Hast du eine Idee?“
„Wir haben das schon auf dem Schirm. Kollegen und Feuerwehr sind schon dabei abzusperren. Du musst wenden. Ein kurzes Stück hinter dir war eine Ausfahrt. Hast du sie gesehen? Da kommst du auf die 258. Fahr einfach nach Nettersheim.“
„Spinnst du? Ich bin auf der Autobahn. Wie soll ich hier wenden?“, fragte Tommaso und hängte das Mikro auf die Gabel des Funkgeräts. Nachdenklich strich er ein paarmal über seine Stirn. Er wusste, er musste etwas unternehmen. Sie war hier nicht sicher. Also schlug er entgegen aller Vernunft das Lenkrad nach rechts ein, um den Wagen zunächst auf den Seitenstreifen zu lenken. Da bekam das Auto einen kräftigen Stoß und wurde mit aller Macht ein Stück nach vorne geschoben. Durch den geringen Abstand zum vor ihm stehenden Wagen war es nun nicht mehr möglich zu wenden.
Anna Marie warf einen Blick durch die Heckscheibe. Sie bemerkte nicht nur den Wagen, der nun an Tommasos Heck hing, sondern auch den LKW, dessen Bremsen ein unheimlich quietschendes Geräusch erzeugten, als würden sie sich dagegen wehren, den Befehl des Fahrers auszuführen.
Als das Geräusch nach lautem Krachen und Quietschen plötzlich verstummte, war Tommasos Wagen, vor allem auf der linken Fahrerseite, endgültig auf das Fahrzeug vor ihnen geschoben worden. Tommasos Wagen klebte buchstäblich auf dessen Heckstoßstange. Er seufzte tief. „Mein Fuß …, ich stecke fest“, schnaubte er mit schmerzverzerrtem Gesicht und griff erneut nach seinem Mikro. „Ben, ein LKW hat uns auf das Fahrzeug vor uns geschoben. Mein Fuß …, ich wurde eingeklemmt. Schick sofort einen Wagen, der Frau Köster übernehmen kann. Nein! Wir wurden verfolgt. Schickt uns den Hubschrauber.“ Er legte seine Hand vor Schmerzen stöhnend auf das eingeklemmte Bein und sagte: „Ich kann nur hoffen, dass die ebenfalls eingeklemmt sind.“
„Alles klar, wird ge…“
Mehr konnte Anna Marie nicht verstehen, da in diesem Moment die Beifahrertür nach einigem Gerüttel aufgerissen wurde. Bevor sie begreifen konnte, was hier geschah, krallte sich eine kräftige Hand schmerzhaft um ihren Oberarm und zerrte rücksichtslos an ihr.
„Was soll das? Lassen Sie mich los!“, wehrte sich Anna Marie und versuchte, sich aus der Umklammerung des Angreifers zu befreien.
Da trat Guido Weber unerwartet einen Schritt zurück. „Los, raus jetzt“, zischte er mit plötzlich gezogener Waffe, die er auf Tommaso richtete.
Anna Maries Herz pochte vor Angst. Obwohl sie hektisch atmete, glaubte sie keine Luft mehr zu bekommen. Am ganzen Körper zitternd, entschied sie sich dann doch, wenn auch widerstrebend, seiner Anweisung zu folgen.
Während er ihr nun die Waffe in den Rücken drückte, befahl er ihr, die hintere Tür zu öffnen, da er wohl den Kleidersack bereits auf der Rückbank entdeckt hatte. „Nimm das Kleid heraus!“
So fest sie auch zog, es war ihr nicht möglich, die ebenfalls etwas verzogene Tür zu öffnen. „Das geht nicht.“
Da schob er sie zur Seite, stemmte ein Bein gegen das Fahrzeug und zog mit aller Kraft an der Tür. „Geht doch.“ Mit kurzem Kopfzucken machte er ihr klar, was sie nun zu tun hatte.
Währenddessen machte er einen Schritt zurück und trat erneut an die Beifahrertür. Ein zerriss das inzwischen aufgekommene Getöse aus Geschrei und Gejammere der in den Unfall verstrickten Menschen. Eine Sekunde herrschte absolute Stille. Die Menschen blickten sich suchend um.
Anna Marie hielt in ihrer Bewegung inne und blickte sich entsetzt nach dem Schützen um. Als sie ihn an der Beifahrertür mit der Waffe im Anschlag stehen sah, die er in diesem Moment nach oben gen Himmel richtete, ahnte sie bereits, dass etwas Schreckliches geschehen war. Ohne auf den Angreifer zu achten, lief sie zur Fahrerseite und versuchte die Tür aufzureißen – was jedoch nicht möglich war. Ein Blick durchs Seitenfenster auf Tommasos blutende Brust ließ sie aufschreien. „Tommaso!“ Mein Gott! Der Kerl hat ihn erschossen. Er stirbt!
„Hei! Los mach schon!“, befahl dieser Teufel in Menschengestalt und zielte nun erneut mit der Waffe auf Anna Marie. „Der kann dir nicht mehr helfen.“

Von nun an beginnt für Anna Marie ein Martyrium, das sie wohl nie in ihrem Leben vergessen wird.