Blutsbande

Kapitel 1

Nur einen Spalt weit ließ sich Amelies Wohnungstür öffnen. Einer der Briefe, die regelmäßig vom Postboten durch den Briefschlitz geworfen werden, musste sich unter die Tür geschoben haben. Erst nachdem Amelie es geschafft hatte, den Übeltäter mit einem Griff durch den Türspalt hervorzuziehen, konnte sie ihre Wohnung betreten.
Sie raffte die gesamte Post zusammen und warf sie auf das Telefontischchen. Aufatmend entledigte sie sich der neuen Sandaletten. Die aufgescheuerte Blase an der Ferse ihres rechten Fußes zuckte schmerzhaft. Sie humpelte ins Bad, um Wundcreme und Pflaster aus dem verspiegelten Hängeschränkchen zu holen. Mit einem durch die Zähne gezogenen, zischenden Laut versorgte sie die mittlerweile blutende Stelle.
„Und nun ein starker Kaffee“, flüsterte sie und begab sich in ihre kleine Küche, die lediglich durch eine Theke vom Wohnraum abgetrennt wurde.
Ein Blick in den Wasserbehälter, Pad einlegen, auf den schwarzen Knopf drücken und schon surrte die Maschine los. Amelie stellte eine Tasse auf das Abtropfgitter und wartete gedankenverloren, bis der Kaffee hinein geflossen war. Mit der Tasse in der Hand begab sie sich zurück in die Diele, nahm ihre Post vom Tischchen und schlenderte, einen ersten Blick darauf werfend, ins Wohnzimmer. Sie stellte die Tasse auf dem Beistelltisch ab, ließ sich seufzend aufs Sofa sinken und schaute die Post weiter durch. Ohne einen genaueren Blick darauf zu werfen, sortierte sie die Werbung aus und stopfte sie in den bereits zum Überlaufen vollen Papierkorb. Der will auch mal wieder geleert werden.
Die Einladung des Weinhändlers, bei dem Gregor noch immer seinen Lieblingswein bestellte, legte sie zunächst auf den Tisch, obwohl sie sich fragte, wie der zu ihrer Adresse gekommen war.
Die vierteljährliche Nebenkostenabrechnung des Vermieters. „Pfff…“, blies sie besorgt die Luft aus, legte den restlichen Stapel beiseite und riss den Umschlag auf. Da ihr die Summe überraschend niedrig erschien, atmete sie erleichtert auf und legte die Rechnung zur Einladung des Weinhändlers. Nach dem kalten, viel zu langen Winter hatte sie mehr erwartet. Sie nahm den restlichen Stapel wieder auf und blätterte ihn durch. Die Stromrechnung, die Telefonrechnung, ein Brief von der Anwaltskanzlei Berends und Partner. „Ha!“ Eine Glückwunschkarte von Gregor. Einen Tag zu früh. Aber immerhin, er hat es nicht … Berends und Partner? Amelie zog den Brief noch einmal hervor und besah sich den respekteinflößenden Umschlag genauer. Tatsächlich! Er ist an mich adressiert. Was wollen die denn von mir?
Berends und Partner – Heidelbergs renommierteste Anwaltskanzlei. Für deren Dienste, das war allgemein bekannt, ließen sie sich von den Reichen und Schönen teuer bezahlen.
Von Zweifeln und Neugier getrieben riss sie den ominösen Umschlag hektisch auf.
Mit freundlichen Worten, die allerdings wenig, im Grunde gar nichts erklärten, wurde sie gebeten, am folgenden Tag gegen neun Uhr in deren Kanzlei zu erscheinen.
Dabei kann es sich nur um eine Verwechslung handeln. Vielleicht eine Namensgleichheit? Nachdenklich faltete sie den Brief, steckte ihn in den Umschlag zurück, zog ihn jedoch gleich darauf erneut heraus und las ihn noch einmal durch, in der Hoffnung etwas übersehen zu haben. Was wollen die bloß von mir? Um nicht weiter darüber nachgrübeln zu müssen, und weil sie sonst womöglich vor Neugier platzen würde, griff sie zum Telefon und wählte die Nummer der Kanzlei.
Eine sympathisch klingende, samtweiche Stimme meldete sich freundlich und lauschte geduldig den Fragen, die Amelie vorbrachte. Unerwarteterweise bestätigte die Dame die Richtigkeit der Einladung und fügte sogar euphorisch hinzu, dass die Herren sich auf ihr Erscheinen freuten.

Also besucht Amelie am nächsten Tag die Kanzlei. Sie erfährt, dass sie das Weingut ihres Vaters geerbt hat, den sie zu seinen Lebzeiten nicht kennenlernen wollte. Ich überspringe hier die Seiten auf denen einiges über Amelie zu lesen ist und die Gründe, weshalb sie das Erbe ablehnen will. Letztendlich entschließt sie sich dann erstmal inkognito dort hin zu fahren.

„Endlich, du bist hier“, hauchte eine feine, wie gläsern klingende Stimme so leise, dass Amelie eine Sekunde überlegte, ob sie selbst die Worte geflüstert hatte. Doch bereits in der folgenden Sekunde war sie sicher, dass jemand anders sie gesprochen hatte. Vermutlich ein entfernt stehender Gast. Oder doch die Ahnfrau, von der Mama gesprochen hat? Amelie konnte ein Schmunzeln nicht verkneifen. Unsinn! Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt und ich sollte mich auf das Wesentliche konzentrieren.
Erst als sie vor der zierlichen Rothaarigen stand, die, das Telefon in der Hand, am Schreibtisch saß, bemerkte diese den neu angekommenen Gast. Sie erhob sich sofort, bat Amelie jedoch dezent gestikulierend, eine Sekunde zu warten, während sie ihrem Gesprächspartner bereits erklärte, dass sie gleich zurückrufen würde, und legte dann auf. „Sie müssen Amelie Thorwald sein?“
„Ja, die bin ich“, antwortete Amelie fröhlich. „Oh, entschuldigen Sie“, fügte sie hinzu, als sie bemerkte, dass sie ihre Sonnenbrille noch trug, und nahm sie höflich ab.
Genau in diesem Moment erstarb das Lächeln auf dem Gesicht der Rothaarigen.
Eine Sekunde glaubte Amelie sogar, so etwas wie Erschrecken in den großen, bestechend grünen Augen aufblitzen zu sehen. Die können hier unmöglich wissen, wer ich tatsächlich bin, sinnierte sie einen Moment, verdrängte diesen Gedanken jedoch sogleich wieder.
„Ich bin Barbara Schilling, Managerin des Hotels“, stellte sich die junge Frau dann auch korrekt vor. „Herzlich willkommen. Wir hatten Sie schon zur Mittagszeit erwartet“, plauderte sie nun munter drauf los. „Hoffentlich wurden Sie nicht von allzu unangenehmen Umständen aufgehalten.“
„Nur eine Reifenpanne und ein Baustau auf der Autobahn“, antwortete Amelie, während sie das sommersprossenübersäte, überaus aparte Gesicht der Managerin betrachtete. „Das Anwesen ist wirklich beeindruckend. Ich habe es mir nicht so groß vorgestellt.“
„Und seit seiner Erbauung Familiensitz derer von Grothe“, erwiderte die Managerin stolz, als wäre sie Teil der Familie.
„Oh!“, tat Amelie unwissend. „Wie passt es da zusammen, dass der Besitzer einen italienischen Namen trägt?“
„Die Ehe des letzten Freiherrn, Theodor von Grothe, und seiner Gemahlin Frederike blieb bedauerlicherweise kinderlos. Aber es gibt da noch dessen Schwester Emma, die den italienischen Geschäftsmann Pietro Albarese geheiratet und zwei Söhne geboren hat. Sie leben in Siena. Der ältere Sohn Paolo Albarese ist politisch ziemlich engagiert, ein Weltmann. Noch nie von ihm gehört?“
Amelie schüttelte verneinend den Kopf. Für Politik hatte sie sich nie interessiert.
„Stefano Albarese, der jüngere“, fuhr die Managerin in ihrer Erklärung fort, „ist da ganz anders.“
Amelie fiel auf, wie die Augen der aparten Managerin zu leuchten begannen, als sie von Stefano sprach.
„Er hielt sich schon als Kind während der Ferien oft als Gast in diesem Haus auf. Und später, während des Studiums in Heidelberg, fast jedes Wochenende. So kam es, dass er in die Belange des Weinguts sozusagen regelrecht hineingewachsen ist. Vermutlich der Grund, weshalb der Freiherr seinen Landsitz an Herrn Albarese vererbte.“
„Wusste Herr von Grothe, dass sein Neffe einen Teil des Guts in ein Hotel umbauen lassen wollte?“, fragte sie weiter, um keinen Zweifel an ihrer Unwissenheit zu lassen.
„Soweit mir bekannt ist, unterstützte Herr von Grothe die Pläne seines Neffen sogar. Es gab keinen Grund sich dagegen zu stellen, zumal es, wie ich bereits erwähnte, keinen Erben gab. Und Herr Albarese wollte, soweit ich weiß, das Anwesen nur unter der Voraussetzung übernehmen, dass Herr von Grothe seinen Plänen zustimmt. Auf diese Weise konnte Herr von Grothe wenigstens sicher sein, dass das Weingut in Familienbesitz bleiben würde.“
„Sie scheinen mit der Familiengeschichte sehr vertraut? Danke für diese kleine Einführung in die Historie der Familie von Grothe“, bemerkte Amelie zufrieden.
„Aber ja. Hier im Haus und in den umliegenden Ortschaften gibt es wohl niemanden, der die Familie und die historischen Hintergründe nicht kennt“, unterbrach Barbara Schilling ihre Gedanken. „Alles, was ich Ihnen eben erzählt habe, ist kein Geheimnis“, glaubte sie sich wohl rechtfertigen zu müssen, da sie anscheinend befürchtete, Amelie könnte sie für eine Klatschbase halten.
„Ich fand es jedenfalls sehr nett, dass Sie mich ein wenig in die Hotelgeschichte eingeführt haben“, antwortete Amelie, während sie sich ins Gästebuch eintrug.
„Ich hoffe“, sagte Barbara höflich, während sie Amelie zuvorkommend lächelnd den Zimmerschlüssel übergab, „Sie fühlen sich wohl in unserem Hause – trotz unseres Hausgeistes“, fügte sie spitz hinzu.
„Hausgeist?“, tat sie verächtlich. War ja zu erwarten. Nun erzählt auch sie mir diese alte fragwürdige Geschichte von der Ahnfrau. „Ich habe auf der Internetseite des Hotels davon gelesen. Aber dabei handelt es sich doch sicher lediglich um einen Werbegag? Eine weiße Frau, ein Ritter ohne Kopf oder ein Blutfleck, der immer wieder erscheint?“, spöttelte sie laut und lächelte Barbara nachsichtig an.
„So etwas in der Art. Man weiß es nicht genau. Aber die Leute sprechen von einer Küchenmagd, die von dem achten Freiherrn, Maximilian von Grothe, 1684 geschwängert wurde. Man vermutet, dass er dem naiven Ding die Ehe versprochen habe, um sie ins Bett zu kriegen.“
„Wie konnte diese bemitleidenswerte Person annehmen, er würde sie tatsächlich heiraten? Eine Küchenmagd und ein Adliger zur damaligen Zeit, das wäre wohl ein Gesellschaftsskandal sondergleichen gewesen“, bemerkte Amelie betont herablassend, weil sie diesen Quatsch von Seelen verstorbener Ahnen einfach nur lästig fand und dadurch hoffte, in Zukunft von solchen Geschichten verschont zu bleiben. Und was ist mit der Ahnfrau? Na, vielleicht erzählen die hier die Geschichte auf diese Weise, weil sie so romantischer, mystischer oder was weiß ich wie klingt. Könnte aber auch sein, dass sich Mutter geirrt hat.
„Jedenfalls tat er es nicht“, fuhr Barbara Schilling fort. „Es wird erzählt, er hätte sie während eines Schäferstündchens im Schlafzimmer des Ostturms von seinen Plänen unterrichtet, eine gewisse Elsa von Harding zu ehelichen. Sich der ungeheuerlichen Schande bewusst, die diese Schwangerschaft mit sich bringen würde, stürzte sich das naive Ding nach der letzten Liebesnacht im Morgengrauen aus dem Fenster. Man munkelt gar, er hätte nachgeholfen. Es ist nicht bewiesen, doch hier glaubt man seit Generationen, sie hätte, bevor sie gesprungen ist, den Freiherrn mit einem Fluch belegt, der sich am Tag ihrer Eheschließung auf alle männlichen Nachkommen überträgt und die jeweiligen Ehefrauen einschließt. Jedenfalls sieht man sie seitdem, stets bevor ein Unglück geschieht, durch die Räume irren.“
Amelie lächelte und schüttelte nachsichtig den Kopf. „Sie glauben diesen Unsinn doch nicht wirklich?“