Gegen alle Vernunft

Kapitel 1

Wenn die Tage kürzer und die einsamen Nächte länger werden, wenn die Tage öfter weinen und die Nächte lauter stöhnen und heulen, wenn wilde, ungezähmte Stürme durch Wälder, über abgeerntete Felder hetzen und bunte, aber tote Blätter durch die Lüfte wirbeln, die Natur sich zur Ruhe begibt und in den Herzen Trauer einzieht, dann ist es Herbst.
Wo hatte sie diese Zeilen noch gelesen? Jana lag mit weit aufgerissenen Augen im Bett und starrte wie hypnotisiert zur Zimmerdecke. Nicht der Wecker, sondern rhythmisch gegen die Fensterscheiben trommelnde Regentropfen hatten sie geweckt.
Ihre Zunge klebte noch am Gaumen, doch Speichel sammelte sich bereits in ihrer Mundhöhle. Es widerstrebte ihr, diesen ersten, mit dem schalen Geschmack der Nacht vermischten Speichel zu schlucken. Sie schlug die Steppdecke zurück, schwang die Beine aus dem Bett, erhob sich und trottete ins Bad. Bevor sie sich zur Toilette begab, drehte sie den Wasserhahn auf und nahm einen Schluck vom kühlen Nass, um ihren Mund auszuspülen. Einen weiteren schluckte sie. Nun fühlte sie sich erfrischt genug, um wem auch immer einen guten Morgen zu wünschen. Doch da gab es niemanden.
Also gönnte sich Jana wie jeden Morgen den kleinen Luxus, noch einmal ins warme Bett zu kriechen, um einige Minuten zu kuscheln. Die Müdigkeit der Nacht noch in den Augen, bereitete es ihr stets ein ganz besonderes Vergnügen, die Decke erneut über die Schulter zu ziehen, und sich gedanklich auf den vor ihr liegenden Tag einzustimmen.
Zu der Zeit, als die Jungs noch bei ihr wohnten, wäre das undenkbar gewesen. Jeder Tag begann mit Volldampf. Irgendetwas war immer los.
Jana atmete tief ein und genussvoll seufzend wieder aus.
Keine zehn Minuten später erhob sie sich schwungvoll. Voller Tatendrang schlüpfte sie in ihren Jogginganzug, zog die Laufschuhe an und – nach einem Blick aus dem Fenster – ihre blaue Regenjacke. Inzwischen schien sich zumindest der nächtliche Sturm beruhigt zu haben. Trotz des nasskalten Wetters, das sie so gar nicht leiden mochte, verließ sie mit übergestülpter Kapuze das Haus. Grund genug, dieses allmorgendliche Wakeup-Ritual ausfallen zu lassen, wäre ein Hurrikan oder sonst ein schweres Unwetter. Schließlich joggte sie nicht, weil sie sich sportlich besonders ambitioniert fühlte, sondern einzig um körperlich fit zu bleiben.
Zunächst lief sie, wie jeden Morgen, durch die Wohnsiedlung, dann die kurze Strecke am Waldrand entlang und anschließend zur Bäckerei Segert. Gewöhnlich kaufte sie dort zwei Semmeln. Doch heute verzichtete sie darauf.
Janas erster Weg, nachdem sie sich der feuchten Laufschuhe und der Regenjacke entledigt hatte, führte in die Küche, um die Kaffeemaschine anzuschalten. Danach lief sie nach oben ins Bad. Sie duschte, föhnte die schokobraunen, halblangen Haare, legte Make-up auf und betonte mit ein wenig Lidschatten, Eyeliner und Wimperntusche ihre graublauen, mandelförmigen Augen. Plötzlich hielt sie inne. Um ihr Spiegelbild genauer betrachten zu können, schob sie ihr Gesicht ganz nah an den Spiegel. Die Neunundvierzig sah man ihr nun wirklich noch nicht an. Obwohl sich bereits die ersten zarten Fältchen an den Augenwinkeln zeigten, strahlten ihre Augen wie eh und je in jugendlichem Glanz. Nachdem sie den zartrosa Lippenstift auf ihre vollen, wohlgeformten Lippen aufgetragen hatte, nickte sie ihrem Spiegelbild selbstgefällig zu. Die Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, konnte sich durchaus sehen lassen.
Aus der Küche lockte der Duft des frisch aufgebrühten Kaffees. Sie nahm ihre Lieblingstasse vom Regal und füllte sie mit dem heißen Muntermacher. Zwei Löffel Zucker und einen Schuss Milch dazu, so mochte sie ihn am liebsten. Langsam schlenderte sie ins Esszimmer hinüber, die Tasse zwischen ihren kalten Händen. Aufseufzend lehnte sie sich an die Terrassentür und starrte freudlos in den verregneten, trist wirkenden Garten hinaus. Sie blies sachte in den dampfenden Milchkaffee und schlürfte vorsichtig einen ersten kleinen Schluck.
Der Himmel gibt sich solidarisch und weint mit meinem Herzen, dachte sie, während sie trübsinnig vor sich hin lächelte und die Rinnsale betrachtete, die tatsächlich wie Tränen über die Fensterscheiben liefen.
Obwohl sie sich dagegen sträubte, gelang es ihr nicht zu verhindern, dass die stille Trauer, die sich tief im hintersten Winkel ihres Herzens verbarg, zunächst zögernd, doch unaufhaltsam hervorkroch. Der leise, die Trauer begleitende Schmerz legte sich über jede Faser ihres Körpers und hüllte sie mit einem Gefühl unendlicher Einsamkeit ein. Jana fröstelte. Wäre Marius jetzt hier, würde er mich in die Arme nehmen und trösten. Er konnte so wundervoll trösten. Und schon verschleierten Tränen ihren Blick und lösten sich aus den Augenwinkeln. Doch bevor sie sich ihrem Schmerz hemmungslos hingab, wischte sie resolut über die feuchten Wangen, atmete tief durch und schluckte die restlichen Tränen tapfer hinunter. Niemand war hier, um sie zu trösten. Wozu also Tränen vergießen, die niemand sehen konnte? Sie war allein. Allein in dieser Welt aus Scherben. „Ach Marius“, flüsterte sie.
Am Todestag ihres Mannes empfand Jana die Sehnsucht nach ihm besonders schmerzhaft. Dann kamen die Erinnerungen an die wohl schönste Zeit ihres Lebens wieder hoch. Leider endeten sie stets mit dem Gedanken an den unglückseligen Umstand, der dieses Leben zerstört hatte, und mit quälenden Gewissensbissen, da sie sich schuldig an seinem Tod fühlte. Diese Hypothese hatte sich vor langer Zeit in ihre Seele gebrannt. Es verzehrte sie langsam aber stetig wie ein nie enden wollendes Feuer, das so heiß in ihr brannte, dass es die Gedärme zu verbrennen drohte …
Wütend auf sich selbst und gleichzeitig resignierend schüttelte Jana den Kopf. „Mist!“, flüsterte sie. Wie lange wird dieses trostlose Wetter wohl anhalten? Da ist die miese Laune doch schon vorprogrammiert, lenkte sie ihre Gedanken in eine andere Richtung, obwohl sie genau wusste, dass ihre Stimmung nichts mit dem Wetter zu tun hatte.
Die Tasse immer noch in der Hand schlenderte sie gemächlich zur Treppe. Mit gesenktem Kopf, schwerfällig, als gelte es eine unliebsame Arbeit zu verrichten, stieg sie Stufe für Stufe nach oben. Im Schlafzimmer angekommen, stellte sie die Tasse auf dem Nachttisch ab, schob die Tür des Spiegelschrankes auf und warf einen oberflächlichen Blick auf ihre Garderobe. Es mangelte ihr nicht an der nötigen Auswahl, dennoch überlegte sie lustlos, was sie anziehen sollte. Endlich griff sie nach dem anthrazitfarbenen Hosenanzug und warf ihn achtlos aufs Bett. Anschließend zog sie aus einem Stapel Pullis einen schwarzen Rollkragenpullover heraus und legte ihn dazu. Nachdenklich fuhr sie mit beiden Händen durch ihr Haar, bevor sie sie im Nacken verschränkte. „Gut!“, flüsterte sie. „Das passt zu beidem, zum miesen Wetter und zu meiner ebenso miesen Gemütslage.“
Nachdem sie sich jedoch wenige Minuten später angekleidet im Spiegel betrachtete, zog sie den Blazer wieder aus. Entschlossen etwas zu ändern, zerrte sie den schwarzen Rolli über ihren Kopf und warf ihn wütend aufs Bett. Die Trauerzeit musste endlich ein Ende haben.
Als wolle sie sich selbst etwas beweisen, griff sie nach einem roséfarbenen Pullover, schlüpfte hinein und betrachtete sich erneut im Spiegel. Zunächst sah sie nur eine Frau, die ihrem Wunsch nach Veränderung genüge getan hatte. Doch langsam veränderte sich ihre Stimmung und nach einer Weile stahl sich gar ein Lächeln auf ihre Lippen. Der Pulli schmeichelte nicht nur ihrem leicht gebräunten Teint, der enganliegende Schnitt betonte zudem ihre tadellose Figur überaus vorteilhaft.
Jana ergriff die Tasse und ging wieder hinunter ins Esszimmer. Auch diesmal lehnte sie sich an die Terrassentür und beobachtete die an der Fensterscheibe herunterlaufenden Rinnsale. Vermutlich lag es an dem mittlerweile wieder aufgekommenen Sturm, der den Regen heftiger ans Glas prasseln ließ als noch vor einer Stunde.

Erneut schweiften ihre Gedanken ab.

Kein anderer wird Marius jemals das Wasser reichen können, geschweige denn ihn ersetzen. Aber das kommt ohnehin nicht infrage. Mein Recht auf Glück habe ich mit seinem Tod verwirkt. Schließlich bin ich … „Nein!“, hauchte sie vor sich hin. Daran wollte sie nun wirklich nicht denken.
Der Flug München – Köln/Bonn wurde aufgerufen.
Jana griff nach ihrer Handtasche und begab sich in den Flieger. Der Flug dauerte nur zirka eine Stunde und so hatte sie nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, was sie in Köln erwartete.
Am Konrad-Adenauer-Flughafen wurde sie vom Chauffeur ihres Chefs abgeholt, der sie direkt in die Schildergasse zum Haupthaus des Mangold-Unternehmens brachte, in dem sich auch die Verwaltung befand.
Als sie den Fahrstuhl betrat, begann ihr Herz freudig zu schlagen. Obwohl sie nicht vorhatte ihm jemals zu sagen, was sie für ihn empfand, so musste sie sich doch wieder einmal eingestehen, wie sehr sie ihn mochte und dass sie sich auf ihn und ihre kleinen Kämpfe freute. Allerdings wurde diese Freude momentan durch starke Kopfschmerzen getrübt, die sie schon während des Fluges zu quälen begonnen hatten.
Frau Stoller, die Chefsekretärin, nahm ihre an einem Goldkettchen befestigte Lesebrille ab und ließ sie achtlos auf ihrem üppigen Busen baumeln.
Die beiden Frauen kannten und schätzten sich seit vielen Jahren.
„Herr Mangold erwartet Sie wie immer mehr als ungeduldig, Frau Degenhardt. Er hat schon mehrmals nach Ihnen gefragt“, erklärte sie verschwörerisch, wodurch sich ihre ein wenig zu hohe, fast piepsig klingende Stimme – wegen der Robert Mangold sie Vögelchen zu nennen pflegte – noch um eine Nuance steigerte.
Jana nickte freundlich lächelnd und ging zielstrebig auf die Bürotür zu. Sie klopfte, öffnete die Tür und betrat das Büro, ohne das energische Ja des „Alten“ abzuwarten.
Der „Alte“, der mit seinen sechsundfünfzig Jahren keineswegs alt war, saß wie üblich hocherhobenen Hauptes auf seinem breiten, lederbezogenen Chefsessel hinter dem dunkelbraunen Schreibtisch aus schwerer deutscher Eiche. Als sie eintrat, verfinsterte sich sein Blick zusehends.
Vor Jahren, als Jana sein mürrisches Chefgehabe noch nicht durchschaut hatte, fühlte sie sich in solchen Momenten wie eine lästige Stubenfliege.
„Ach, Sie sind es“, brummte er, um diesen Eindruck noch zu verstärken. Ohne sich zu erheben, auf den Besuchersessel vor seinem Schreibtisch deutend, befahl er: „Kommen Sie, setzen Sie sich.“
Er kann es einfach nicht lassen. Normalerweise nahm sie sein Verhalten, bei dem es sich um eine Art spielerischen Kampf zwischen ihnen handelte, mehr oder weniger gelassen hin. Doch heute ärgerte sie sich darüber. Möglicherweise lag es an den Kopfschmerzen, dass sie sich matt fühlte, entsprechend gereizt reagierte und schon gar nicht gewillt war, Spielchen zu spielen. Dennoch harrte sie gespannt der bissigen Bemerkung, mit der er sie diesmal begrüßen würde.
„Vögelchen, bringen Sie uns bitte Kaffee!“
„Gerne, Herr Mangold“, antwortete diese eifrig, schob die Brille wieder auf ihre Nase, drehte sich auf dem Absatz um und schloss die Tür hinter sich.
Wie gewöhnlich trug er seine Brille, die er nur zum Lesen benötigte, auf der Stirn und beobachtete Jana aus Augen, die seine brummige Art Lügen straften. Es fiel ihm offensichtlich schwer sich zu beherrschen. Am liebsten würde er vermutlich aufspringen und auf sie zustürmen, um sie an seine breite Brust zu drücken. Doch das „Spiel“ ließ das nicht zu. Wie immer, wenn er von sich ablenken wollte, drehte er den schwarzen, mit einem kleinen goldenen Wappen besetzten Füller zwischen seinen Fingern.
Auch sie hätte ihn gerne umarmt, doch das „Spiel“ und vor allem die Distanz, auf der sie während all der Jahre rigoros bestanden hatte, hinderten sie daran. Zuckte da etwa eben einer seiner Mundwinkel?
„Nun, was haben Sie mir zu sagen, Jana?“, brummte er weiter vor sich hin.
Sie atmete tief ein und hob lediglich trotzig, ohne zu antworten, ihr Kinn.
„Probleme?“, fragte er scheinbar desinteressiert.
Liegt da etwa eine Spur Sorge in seiner Stimme? Unmöglich! Schließlich bemüht er sich seit Jahren, seinen weichen Kern vor mir zu verstecken. „Ich?“
„Wer sonst?“
„Sie.“
„Mir geht es bestens. Aber Sie haben möglicherweise eines?“
„Ich bin topfit, MEIN Verstand arbeitet wie ein Uhrwerk. Welches Problem also sollte ich haben?“, fragte sie darum gelassen.
Er schien die besondere Betonung auf dem Wort „mein“ sehr wohl vernommen zu haben. „Ich wüsste da schon eines. Aber lassen wir das“, bemerkte er listig mit zusammengekniffenen Augen in seiner betont schroffen Art.
„Eben“, konterte sie und fügte gedanklich hinzu – nur einmal möchte ich erleben, dass er sich einfach nur freut mich zu sehen. „Soweit ich mich erinnere, wollten Sie etwas mit mir besprechen, Herr Mangold“, sagte sie darum müde. „Ich bin schließlich auf Ihren Wunsch hier.“
„Das stimmt nicht ganz“, antwortete eine angenehm tiefe Stimme mit leicht englischem Akzent.
Jana kroch ein wohliger Schauer über den Rücken. Sogleich drehte sie sich in die Richtung, aus der sie die Stimme vernommen hatte, und erblickte den Mann, dem diese zuzuordnen war.
„Sie sind auf meinen Wunsch hier“, sprach er weiter. „Mein Vater hat gewettet, Sie würden es ablehnen nach Köln zu kommen, geschweige denn mit mir gemeinsam an diesem Projekt zu arbeiten. Er geht davon aus, dass Sie ihn nicht leiden können, und diese Abneigung unweigerlich auf mich übertragen würden.“
„Wie kommt er bloß darauf?“, fragte sie schnippisch und warf dem „Alten“ einen vielsagenden Blick zu, bevor sie sich erneut dem jüngeren zuwandte. „Sie sind also sein Sohn?“
„Ja. Und ich war wirklich gespannt auf die Frau, die mein Vater sehr bewundert, auch wenn er das vermutlich nie zugeben wird“, antwortete er schmunzelnd, während er auf sie zuging.
„Papperlapapp“, ließ Robert Mangold verlauten.
„Viktor Mangold“, stellte er sich vor und streckte ihr seine Hand entgegen. „Guten Tag, Frau Degenhardt“, begrüßte er sie, ihre Hand länger als nötig festhaltend, als wolle er sie – zumindest vorerst – nicht mehr loslassen.
Der eindringliche Blick, mit dem er sie aus aquamarinblauen Augen musterte, traf Jana bis in ihr Innerstes, weckte ein Gefühl vollkommen irrationaler Art und machte sie sprachlos.
Er lächelte bewundernd. „Ich muss meinem Vater recht geben, in Wirklichkeit sind Sie noch schöner.“
„Oh!“ Jana stand perplex, mit leicht geöffnetem Mund vor ihm. Was für ein bemerkenswerter Mann! Diese Augen … Wow!