Blinti

Es war einmal … damit beginnen Märchen, Legenden oder Sagen. Immer steckt ein Körnchen Wahrheit drinnen. So verhält es sich auch mit dieser Geschichte, die ich auf Wunsch meines Vaters zu Papier bringe, um sie für kommende Familienmitglieder zu erhalten.
Ist es so geschehen oder wurde sie lediglich von Generation zu Generation so oder mit kleinen Veränderungen weitergegeben? Man weiß es nicht genau. Doch genau so wurde sie mir erzählt.

***

Im Stall des reichsten Bauern im Ort wurden drei Kätzchen geboren. Der Bauer war ein harter Mann, der kein Gewissen zu haben schien. Als er die Kätzchen entdeckte, nahm er sie der Katzenmutter weg, steckte sie in einen Sack und drosch mit dem Dreschflegel wild darauf ein. Dann warf er den Sack in den nahen, über Felsbrocken wild ins Tal brausenden Bergfluss.
Seine Tat blieb jedoch nicht unbeobachtet. Meine Ururgroßmutter, damals das schönste Mädchen im Ort, war zu diesem Zeitpunkt unterwegs, um Kräuter für die Mutter zu sammeln. Sie lief zu einer Stelle, an der der Sack vorbeikommen musste und tatsächlich gelang es ihr, ihn mit einem langen Stock herauszuziehen. Sie öffnete ihn und brach in Tränen aus, als sie die geprügelten, teils aufgeplatzten Leiber der erschlagenen Kätzchen erblickte. Eines nach dem anderen nahm sie heraus, um es in der Nähe zu begraben. Als sie jedoch das dritte Kätzchen herausnahm, ein schwarzes mit einem kleinen weißen Fleck auf der Stirn, begann dieses kläglich zu maunzen. Es hatte die brutale Tortur tatsächlich überlebt. Meine Ahnfrau erkannte an den weißen, wie mit Milch überzogenen Augen, dass dieses Kätzchen blind war. „Armes kleines Ding.“ Sie legte das unterkühlte Tierchen zunächst an ihr Herz, um es zu wärmen, dann nahm sie ihr Schultertuch und legte es hinein. Nachdem sie die beiden anderen begraben hatte, lief sie eilends nach Hause, wo sie dem Kätzchen den Namen Blinti gab, ein alter keltischer Name für „blind“.
Blinti begleitete meine Ahnfrau auf Schritt und Tritt, und zwei Jahre nach seiner Rettung geschah es, dass der Bauer zum Witwer wurde. Er trauerte nicht um seine Frau, die für ihn unnütz war, da sie nicht fähig war ihm einen Erben zu schenken. Noch während der Trauerzeit begab er sich auf die Suche nach einer neuen Frau, mit der er seine verstorbene ersetzen konnte. Als er eines Tages meine Ahnfrau auf dem Feld ihrer Eltern entdeckte, war er von ihrem Antlitz so angetan, dass er begann um sie zu freien. Dabei war ihm jedes Mittel recht. Letztendlich gab der Vater den Drohungen und Repressalien des Bauern nach und gab ihm seine Tochter zur Frau.
In der Hochzeitsnacht wollte der Bauer sein Recht als Ehemann geltend machen und begab sich ins Ehegemach. Doch am Fußende des Bettes lag bereits die blinde Katze. Zornentbrannt gab er ihr einen kräftigen Schlag, der sie regelrecht vom Bett wischte. Weinend und schluchzend begehrte meine Ahnfrau gegen das rüde Verhalten ihres Ehemannes auf. Er jedoch hatte nur eines im Sinn und da er von Liebe und Zärtlichkeit nichts zu wissen schien, legte er sich schwer auf seine Ehefrau, um sie zu nehmen. Blinti, die den Vorgang nicht sehen konnte, das Herzeleid und die Angst ihrer Herrin jedoch zu spüren schien, sprang fauchend in den Nacken des Bauern, schlug ihre Krallen in sein Fleisch und biss ihn in die Ohren.
Der Bauer schüttelte sie hektisch von seinen Schultern und erhob sich wütend, um die verhasste Katze aus dem Zimmer zu befördern. Doch Blinti krallte sich fest an sein Bein und ließ sich nicht mehr abschütteln, obwohl der Bauer wild um sich schlug, während er durch das Zimmer lief und auf das Treppenpodest vor der Tür hinaustrat. So mit der Abwehr der Katze beschäftigt übersah er einen Tonkrug. Er stolperte, fiel kopfüber die Treppe hinunter und brach sich das Genick.
So kam es, dass meine Ahnfrau später einen Mann heiraten konnte, den sie von Herzen liebte – meinen Ururgroßvater.

***

Was letztendlich aus Blinti wurde, ist nicht überliefert. Doch die Katze musste wohl eines Tages Junge bekommen haben, anders kann ich mir nicht erklären, wie es möglich ist, dass auch die nachfolgenden Generationen eine ebenso treue Kameradin an ihrer Seite hatten und immer noch haben. Mein Vater jedoch ist davon überzeugt, dass unsere und die damalige Blinti ein und dieselbe Katze ist.
Wie er auf diese absurde Idee kommt? Sie trägt nicht nur den Namen der Katze meiner Ahnfrau, der irgendwie von Generation zu Generation weitergegeben wurde, sie ist ebenfalls schwarz mit diesem weißen Fleck auf der Stirn und sie ist blind.
Außerdem behauptete er, er hätte Blinti nie als neugeborenes Kätzchen gekannt. Sie wäre einfach schon immer da gewesen.

***

Eben werfe ich einen Blick auf Blinti, die vor mir auf ihren Hinterbeinen sitzt und mich scheinbar mit ihren milchig weißen Augen anstarrt, als wüsste sie genau, dass es bei meiner Schreiberei um sie geht. Und jetzt, nachdem ich diese alte Familiengeschichte aufgeschrieben habe, frage ich mich tatsächlich, ob an Vaters Vermutung von der ewig lebenden Katze nicht doch etwas Wahres dran ist …

Diese und noch viele weitere Kurzgeschichten finden Sie in meinem Buch „Ich sag´s mal so …“