Ich habe dir vertraut

Prolog

Sekunden nur starrte Carmen fassungslos auf seine zum Schlag erhobene, feingliedrige Hand.
„Das wagst du nicht, dazu hast du nicht den Mumm“, spottete sie herablassend, mit verächtlich nach unten gezogenen Mundwinkeln.
„Ach, meinst du?“
Unverhohlener Zorn klang aus seiner Stimme. Blitzschnell machte er einen Schritt auf sie zu und schlug ihr erbarmungslos mit dem Handrücken ins Gesicht.
Ihr Kopf wurde zur Seite gerissen. Brennender Schmerz durchzuckte ihre wie feines Porzellan schimmernde Wange, die sich zusehends rötete. Lediglich winzig aufblitzende Lichter erhellten die spontan aufgetretene Dunkelheit vor ihren Augen. Trotz ihres Entsetzens über seine Reaktion, und obwohl ihre rechte Gesichtshälfte brannte, als hätte jemand ein Feuer darauf entzündet, fasste sie sich verhältnismäßig schnell. Wutentbrannt blitzten ihn ihre bernsteinfarbenen, tränennassen Augen an. Ihr sonst so ebenmäßiges Gesicht mit den hohen Wangenknochen und dem vollen karmesinrot geschminkten Mund wirkte verzerrt als sie brüllte: „Du feiger Dreckskerl. Was fällt dir ein?“
„Ich habe es satt“, spie er ihr hasserfüllt entgegen und fügte deutlicher werdend hinzu: „Ich habe es so verdammt satt. Du bist wie sie. Du bist keinen Deut besser.“ Erneut schlug er zu. Diesmal mit der Innenfläche seiner immer noch erhobenen Hand auf ihre andere Wange.
Sie taumelte, stolperte einige Schritte rückwärts, bis sie an einen Sessel stieß, an dessen Rückenlehne sie sich festhalten konnte. „Du bist wahnsinnig“, flüsterte sie. Ihr Gesicht brannte, ihr Kopf fühlte sich an, als wäre sie gegen eine Mauer gerannt. Gleichzeitig spürte sie ein unerklärliches Verlangen, eine unbändige Gier nach seinen Händen auf ihrem Körper. Der Schock, dachte sie, der Schock macht mich irrsinnig. Niemand hat das Recht mich so mies zu behandeln. Sie musste dem Kerl schnellstens klarmachen, dass er so nicht mit ihr umspringen konnte. „Du elender Schlappschwanz bist unfähig eine Frau wie mich – eine richtige Frau – zu befriedigen. Denkst du etwa, auf diese Weise könnte es dir gelingen?“
Wütend über so viel Unverfrorenheit biss er die Zähne zusammen. Seine Kieferknochen traten warnend hervor. Er schnaufte wie ein wild gewordener Stier durch die Nase, packte sie an den Schultern und schüttelte sie hart, ohne an die möglichen Folgen zu denken.
„Ha“, entfuhr es ihr, führte jedoch im Geiste einen plötzlich durch ihren Kopf jagenden, zugegebenermaßen perversen Gedanken zu Ende. Warum eigentlich nicht? Die Vorstellung ist gar nicht schlecht. Seine so unerwartet zur Schau getragene Männlichkeit könnte diese abgeschmackte Liebschaft eventuell wieder aufpeppen. Ihr Gesicht brannte noch. Doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie ließ ihren Kopf aufreizend langsam in den Nacken sinken, öffnete den Mund und ließ ihre Zunge verführerisch über die vollen Lippen gleiten. „Ja“, stöhnte sie aufreizend lächelnd, während sie seinen Gürtel ergriff, das Leder durch die Schnalle zerrte, den Hosenbund aufknöpfte und fast gleichzeitig den Reißverschluss herunterzog.
Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, was sie vorhatte und sich fragte, ob ihr seine Schläge möglicherweise die Sinne vernebelt hatten? Fassungslos gab er ihr einen kräftigen Stoß gegen die Brust, der sie fast zu Fall brachte.
Sie lachte gurrend und fuhr mit beiden Händen durch ihr blondgelocktes, mittlerweile zerzaust in die Stirn hängendes Haar, wodurch sich ihre vollen Brüste aufreizend hervorhoben. Seinen schnellen Blick darauf registrierend, bewegte sie sich aufreizend langsam auf ihn zu und noch ehe er sie erneut von sich stoßen konnte, krallte sie eine Hand in seinen Oberarm und griff mit ihrer anderen in seine Hose. „Komm schon, lass die Hose runter. Könnte sein, dass mir dieses neue Spiel gefällt.“
„Du kapierst es nicht“, bemerkte er mit verächtlich nach oben verzogenem Mundwinkel. Dann, von einer Sekunde zur anderen, erschlafften seine angespannten Gesichtszüge und sein Blick wurde eiskalt. „Das ist kein Spiel.“
„Angst vor der eigenen Courage?“, spöttelte sie weiter und fügte, als er sich abwandte, mit frustriert klingendem Unterton hinzu: „Du willst doch nicht etwa gehen? Jetzt wird es doch erst interessant.“
Mit ausdrucksloser Mine zog er den Reißverschluss seiner Hose hoch und schloss den Gürtel. „Wie konnte ich mich nur mit dir einlassen?“
„Stellst du diese Frage tatsächlich mir?“
Ohne darauf zu antworten, wandte er sich ab und eilte zur Tür.
„Gib es schon zu“, rief sie hinter ihm her, „du willst es lieber hart. Die harte Tour bringt dich in Fahrt. Alles andere ist doch nur sentimentales Larifari. Lass es uns machen. Jetzt. Bei einer Frau, die dich verliebt umschmeichelt und mit Glupschaugen anhimmelt, kriegst du doch gar keinen hoch. Eine Frau, die deine dunkle Sinnlichkeit herausfordert, brauchst du. Du brauchst mich! Du brauchst mich wie der Teufel die Seelen, und du willst mich. Gib es zu, mein kleiner Spielgefährte kam doch stets erst auf Touren, nachdem ich dich zuvor so richtig anturnte.“
Zwei Schritte vor der Tür blieb er stehen, hörte sich an, was sie sagte und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er ihr voll und ganz zustimmte. Nicht Liebe zog ihn zu ihr hin, sondern lediglich ihr aufreizendes Verhalten. Mit ihrer Ausgelassenheit und ihrer Lust am Leben hatte sie ihn in einen Taumel versetzt, der ihn glauben ließ, dass er sie liebte – ganz am Anfang. Aber dann, mit der Zeit, schälte sich ihr wahres Ich heraus. Immer wieder zeigte sich ihr verkommener, geltungssüchtiger Charakter. Auch sie gehörte zu jener Sorte Frauen, die ihre eigenen egoistischen Pläne verfolgten. Er hätte sie schon vor Wochen verlassen sollen. Kaum merklich schüttelte er den Kopf. Nie wieder wollte er mit so einer etwas zu tun haben. Nie wieder. Er ging rasch weiter und öffnete die Tür.
„Halt! Du lässt mich hier nicht einfach so stehen. Wenn du jetzt gehst, ist deine Karriere zu Ende“, drohte sie.
Augenblicklich schloss er die Tür wieder und wandte sich zu ihr um. „Wie willst du das denn anstellen, ohne dich selbst an den Pranger zu stellen?“
„Da wird mir sicher etwas Passendes einfallen“, meinte sie höhnisch lächelnd und streichelte die immer noch brennende Wange.
Sie befand sich durchaus in der Position, ihm zu schaden, das wusste er. Nicht nur, weil die Spuren seiner Wut ihre Wange immer noch deutlich sichtbar zierten, sondern auch und vor allem, weil sie sich auf einem gesellschaftlichen Parkett bewegte, auf dem fast alles möglich war.
Unsäglicher Hass gegen die Frau quoll plötzlich wie brodelnde Lava aus den tiefen seines Unterbewusstseins. Er ballte die Hände zu Fäusten und eilte auf sie zu. Noch einmal wollte er ihr in aller Deutlichkeit klarmachen, dass sie zu ihrem eigenen Besten auf derartige Aktionen verzichten sollte. Als er den kleinen Beistelltisch erreichte, bemerkte er den Kerzenständer aus weißem Marmor.

Erster Teil

Kapitel 1

Obwohl Senta gewohnheitsmäßig früh aufstand, um, wie sie stets verlauten ließ, das Leben in vollen Zügen zu genießen, starrte sie nun doch etwas verwundert in die aschfarbige Dunkelheit des vom Mond nur schwach beleuchteten Zimmers. Sie warf einen kurzen Blick auf den Wecker und stellte erstaunt fest, dass er erst kurz nach fünf zeigte. Ach ja, kam langsam die Erinnerung zurück, da war was, ein dumpfes Geräusch … Vermutlich habe ich nur geträumt?
Sie drehte sich auf den Rücken und lauschte der Stille. Dennoch beschlich sie ein unbehagliches Gefühl, das jedoch vermutete sie, möglicherweise an der ungewohnten Umgebung und dem fremden Bett liegen könnte. Unsinn, versuchte sie, sich deshalb zu beruhigen, ich habe geträumt. Am besten schlafe ich eben auf meinem eigenen Kissen. Na, das wird ja dann noch was geben, bis ich mich an ein neues gewöhnt habe, überlegte sie und dachte dabei an ihre Stuttgarter Wohnung, die sie am Abend zuvor geradezu fluchtartig verlassen hatte.
Einmal tief durchatmend drehte sie sich wieder zur Seite. Doch obwohl sich ihre Unruhe, mit der Erinnerung an den letzten Abend verflüchtigte, gelang es ihr nicht wieder einzuschlafen. Zumal diese, zunächst unterschwellig, doch letztendlich beharrlich von beängstigenden Gedanken unterbrochen wurde, die sich um das abseits vom Ort stehende Haus ihrer Großeltern drehten. Da könnte jederzeit ein Landstreicher eindringen, ohne von den Nachbarn bemerkt zu werden.
Ein Landstreicher mit Auto? Wohl kaum. Und woher sollte ein Fremder wissen, dass das Haus zurzeit leer steht? Todesanzeigen und die Leute reden. Hier am Ort weiß doch jeder über jeden Bescheid. Beim Bäcker oder Metzger kann schnell mal ein Wort fallen, das jemanden, den es nichts angeht, dazu animiert, sich die Sache mal genauer anzusehen. Aber das Auto? Unsinn! Was habe ich nur immer mit dem Auto? Das Geräusch könnte auch von einem Einbrecher verursacht worden sein. In so alten Häusern gibt es immer was zu holen. Niemand weiß, dass ich hier bin und nichts deutet darauf hin. Mein Auto steht in der Garage. Vielleicht spinnst du dich jetzt mal aus.
Einmal durchatmend drehte sie sich wieder auf den Rücken und starrte lauschend an die Zimmerdecke. Knirschen … Schritte! Der Kiesweg im Garten …, da geht jemand. Das sind eindeutig Schritte? Leises Maunzen erregte ihre Aufmerksamkeit. Und was ist …? Eine Katze, überlegte sie erleichtert aufatmend, nachdem ihre Gedanken sich längst bereit erklärt hatten, sich in furchterregende Abgründe zu begeben. Suchend tasteten ihre Finger nach der Nachttischlampe. Bevor sie jedoch den Schalter fand, hörte sie erneut dieses Maunzen und gleich darauf auch wieder Schritte. Ganz nah. Mitten in der Bewegung hielt sie inne, zog ihre Hand zurück und rutschte tiefer unter die Decke.
Normalerweise hätte sie irgendein Licht in der Wohnung angelassen, um sich, falls sie während der Nacht auf die Toilette musste, in der ungewohnten Umgebung zurechtzufinden. Stattdessen hatte sie einfach die Rollos im Schlafzimmer hochgezogen. Das kalte Licht des Vollmondes hatte ihr am Abend vollkommen genügt. Mittlerweile befand sich der Mond allerdings auf der anderen Seite des Hauses und die Umrisse der Möbel konnte sie nur noch schemenhaft wahrnehmen. Allerdings durfte sie nun, wollte sie vermeiden, dass die Person, die da draußen herumschlich, auf sie aufmerksam wurde, keinesfalls das Licht anschalten.
Den Gedanken kaum zu Ende gedacht, hörte sie erneut ein dumpf knallendes Geräusch. Als ob jemand …, ja, das könnte der Kofferraumdeckel eines Wagens gewesen sein. Senta lauschte angestrengt. Und das? Eine Autotür?
Ihre Vermutung bestätigt sich, als gleich darauf ein Auto gestartet wurde. Es muss direkt auf der Einfahrt stehen.
Plötzlich fiel ihr der Waldweg ein, der direkt am Haus vorbeiführte. Und ich werde hier fast verrückt vor Angst, dachte sie, während sich ihr Körper ausatmend entspannte. Vermutlich ein Liebespärchen, das die Abgeschiedenheit suchte. Vielleicht haben die beiden ja einen kurzen Spaziergang gemacht oder sind ausgestiegen, um eine Zigarette zu rauchen?
Dennoch drückte Senta erst auf den Lichtschalter der Nachttischlampe, als das Motorgeräusch des Wagens in der Ferne verstummte. Sie griff nach ihrer Brille, setzte sie auf und da an Schlaf ohnehin nicht mehr zu denken war, schlug sie die Decke zurück und sprang munter aus dem Bett. Zunächst schaltete sie den Heißwasserboiler und den Heizstrahler im Bad ein, dann machte sie einige Dehnübungen. Da das Aufheizen des Wassers eine Weile dauern würde, schlenderte sie in die Küche um die Kaffeemaschine in Gang zu setzen.
Während sie ausgiebig duschte, dachte sie nur einmal kurz an Elmar, diesen missratenen Weiberhelden, schob den Gedanken jedoch sofort weit von sich. Die nächsten Tage wollte sie sich nur auf sich selbst konzentrieren.
Erfrischt und voller Tatendrang rubbelte sie sich gut ab und schlüpfte in eine knielange Jogginghose und eines ihrer geliebten Schlabber-T-Shirts.
Verlockender Kaffeeduft empfing sie in der Küche.
In der Hand die Tasse schlenderte sie ins Wohnzimmer, öffnete die Schiebetür und trat auf die mit Natursteinen gepflasterte Terrasse hinaus. Tief sog sie die würzige, nach Sonnenblumen, Astern und Nebel duftende, feuchte Herbstluft ein. Sie fröstelte. Zu dieser Jahreszeit und vor allem, so früh am Tag, war es in den leichten Klamotten doch zu kühl.
Senta stellte die Kaffeetasse auf den Fenstersims, lief zurück ins Badezimmer, schlüpfte in ihren weichen Frottierbademantel und wickelte ihn fest um ihre schmale Gestalt.
„Ja! Das ist entschieden besser“, flüsterte sie, während sie die Arme vor der Brust überkreuzte und ihre Oberarme warm rubbelte. Erneut trat sie auf die Terrasse hinaus, nahm die Tasse mit dem inzwischen etwas abgekühlten Getränk und nippte daran.
Der Morgen graute bereits. Nebelschleier zogen langsam über den gepflegt wirkenden Rasen, erhoben sich gespenstisch, lösten sich auf oder streiften Bäume und Büsche und verfingen sich in deren Geäst. Die Sonne, ein verschwommener gelber Fleck, versteckte sich noch tief hinter den Weiden, die in der Ferne das Ufer des schmalen Bachbetts säumten. Ihre kaum nennenswerte Leuchtkraft drang nur schwach durch den grauen Dunst der Nebelschwaden.
Das war es, was der Großvater so sehr geliebt und die Großmutter all die Jahre nur ertragen hatte, weil sie wiederum ihn liebte. Diese beruhigende Stille, aus der er immer wieder, wie er ihr einmal erzählte, neue Kraft schöpfte. Dieselbe Stille allerdings, die ihre Großmutter stets als beklemmend empfand. Ein Grund, vermutlich der ausschlaggebende, weshalb sie sich nach seinem Tod nur sehr selten hier aufhielt.
Wie auch immer. Senta hatte sich schließlich auch eine Wohnung in der Stadt genommen. Eine gemütliche Dachwohnung in einem typischen Jugendstilstadthaus im Westen Stuttgarts mit verhältnismäßig großer Dachterrasse, die einen beeindruckenden Blick über Stuttgart bot. Nach und nach hatte sie Kübelpflanzen besorgt, Tomaten- und Paprikasetzlinge in Terrakottakästen gesetzt und Kräuter wie Petersilie, Schnittlauch und Kerbel gesät. Am meisten jedoch liebte sie ihre Blumen. Wie jedes Jahr blühten Astern, Dahlien und Gladiolen auch jetzt zum Herbstanfang noch immer in den herrlichsten Farben. Ganz besonders erfreute sie sich an deren zauberhaftem Anblick, während sie auf der blauweißgestreiften, zwischen zwei Buchsbäumen stehenden Hollywoodschaukel lag. Sie hatte das Monstrum im ersten Sommer angeschafft und eigenhändig zusammengeschraubt.
Obwohl sie sich hier im Hause ihrer Großeltern geborgen fühlte, vermisste sie ihre eigene Wohnung nun doch ein wenig.
Über die Terrasse schlendernd, sog Senta noch einmal die kühle Luft tief in ihre Lungen. Einer plötzlichen Eingebung folgend stellte sie die Tasse wieder auf dem Fenstersims ab. Voller Vorfreude stieg sie die zwei flachen Stufen zum Garten hinunter und lief über den schmalen Weg, vorbei an brach liegenden Gemüsebeeten, die nun von Brennnesseln, Löwenzahn, Schachtelhalm und Unkräutern, deren Namen sie nicht kannte, überwuchert wurden, direkt zum Holzschuppen. Ihr spontaner Entschluss, Feuer im alten Beistellherd der Küche zu machen, beruhte auf dem Wunsch das glückselige Wohlgefühl zurückholen, das sie stets als Kind früh morgens empfunden hatte, wenn sie, den Schlaf noch in den Augen, die Küche betrat.
Kurz bevor sie den Schuppen erreichte, stolperte sie über ein flaches Hindernis. „Mist! Selbst zum Gehen zu dusslig“, beschimpfte sie sich selbst. Ich hätte eine Taschenlampe mitnehmen sollen.
Doch nun stand sie schon mal hier, also konnte sie auch gleich einen Arm voll Holz mitnehmen.
Die seit langem nicht mehr geölten Scharniere quietschten, als sie die Tür öffnete. Ein Geräusch, ähnlich dem Maunzen einer Katze. Das ist doch …
An der Wand herunter tastend, suchte Senta den Lichtschalter, der sich hier irgendwo befinden musste. „Na, bitte“, flüsterte sie leise, als sie ihn fand und herunterdrückte. „Mist!“, entfuhr es ihr sogleich, als es dunkel blieb – stockdunkel, da es im Schuppen lediglich ein winziges Fenster auf der Südseite gab. Die Glühbirne ist kaputt, fügte sie in Gedanken hinzu.
Einen Moment blieb sie stehen, damit sich ihre Augen an die schummrige Dunkelheit, die die Nacht vom Morgen trennte, gewöhnen konnten. Es würde ja genügen, wenigstens so viel zu sehen, dass sie nicht auch noch über herumliegende Holzscheite stolperte und sich doch noch verletzte.
Den harzigen Duft des Holzes, der schon während ihrer Kindheit ein warmes Gefühl der Geborgenheit in ihr weckte, tief in ihre Lungen inhalierend, schloss sie einen Moment genießerisch die Lider. Noch einmal sog sie ihn durch ihre Nase. Doch diesmal bemerkte sie einen Geruch, der irgendwie nicht in ihre Erinnerung passte. Seltsam, dachte sie und schnüffelte einige Male wie ein Jagdhund auf Fährtensuche. Es roch zwar nach Holz, wie immer, aber zunehmend drängte sich dieser süßlich, gleichzeitig strenge Geruch in den Vordergrund, den sie nicht einzuordnen vermochte, von dem sie nur wusste, dass er nicht hierhergehörte. Der süßliche Geruch einer verwesenden Maus oder Ratte?
Senta entschloss sich, zur Terrasse zurückzugehen und zunächst ihren Kaffee zu trinken. Inzwischen würde es dann schon heller werden.
Zehn Minuten später konnte sie ihre Ungeduld und die Vorfreude auf ein knisterndes Feuer nicht mehr bändigen. Sie lief in die Küche, zog Großvaters Schublade heraus, in der sich lauter praktische Dinge für kleine Notfälle im Haushalt befanden, und entnahm ihr die Taschenlampe.
Unwillkürlich schnupperte sie erneut, als sie den Schuppen wieder betrat. Sie knipste die Taschenlampe an und ließ deren Lichtstrahl langsam über das aufgestapelte Holz wandern. Es riecht nach …, überlegte sie und schnupperte noch einmal, jedenfalls nicht nach Verwesung. Es riecht nach Holz. Parfüm? Und …
Vorsichtshalber suchte sie die Decke nach Spinnweben ab. Schließlich wurde der Schuppen schon längere Zeit von niemandem betreten. Zu ihrer Verwunderung waren, bis auf wenige in den Ecken, keine vorhanden. Der gemähte Rasen fiel ihr ein. Jemand hat den Rasen gemäht und dafür Großvaters Rasenmäher aus dem Schuppen geholt. Mutter hat gar nicht erwähnt, dass sie einen Auftrag an den hiesigen Gärtner erteilt hat. Ist auch egal. Dennoch suchte die Stelle ab, an der sie das Gerät vermutete. Ja, da steht …
Vor Schreck blieb ihr fast das Herz stehen, für eine Sekunde setzte ihre natürliche Atmung aus, nachdem sich ihr Mund zu einem hauchenden „Ha …“ geöffnet hatte. Der Lichtkegel der Taschenlampe, die sie, nachdem sie ihr fast entglitten wäre, krampfhaft umklammerte, erfasste einen Fuß und gleich darauf den Körper einer Frau. Eine Sekunde dachte sie an eine Obdachlose, die Unterschlupf gesucht und ihr nun erschrocken entgegenstarrte.
„Hallo? Hallo Sie, was machen Sie hier?“, fragte Senta vorsichtig, sich gleichzeitig der bizarren Komik ihrer Worte bewusst, da ihr im selben Moment die unnatürlich gekrümmte Haltung der Frau auffiel. Von dieser Person würde sie keine Antwort mehr erhalten.
Der Oberkörper der Toten lag, nach hinten gebogen, über einem losen Haufen Holz. Ein Arm lag auf ihr, die Hand im Schoß, der andere, über ihrem Kopf, verschwand fast hinter dem Holzhaufen und die Füße streckte sie seltsam verdreht von sich. Ganz so, als hätte sie jemand wie einen Sack Kartoffeln geschultert und dann einfach herunterrutschen lassen.
Senta wich einen Schritt zurück. Vergessen war der Grund, der sie hierhergeführt hatte. Panik ergriff sie, ihr Magen rebellierte, ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander, während sie die Tote wie hypnotisiert anstarrte. Müsste ich bei diesem grauenvollen Anblick nicht laut schreien? Macht man das nicht so?
Doch kein Laut kam über ihre Lippen. Sie wollte weglaufen, gleichzeitig hielt eine unbekannte Macht sie zurück. So sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr weder sich abzuwenden, noch einen Schritt aus dem Schuppen zu tun. Die Zeit schien still zu stehen, während sich ihr Blick auf die weit aufgerissenen, erstaunt blickenden Augen einer Frau fixierte, die wie es Senta schien, selbst bis zu ihrem letzten Atemzug nicht begreifen wollte, was mit ihr geschah. Noch etwas bemerkte sie in diesen Augen, eine Art Erkennen und eine unendliche Traurigkeit. Geht’s noch? Meine blühende Fantasie … Dieser Gedanke und plötzliches Glockengeläut vom nahen Kirchturm das in ihren Ohren dröhnte wie Totengeläut, brachte sie in die Realität zurück. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben. Es ist sieben Uhr. Langsam löste sich ihre Erstarrung. Dennoch empfand sie die Situation unwirklich wie einen Film oder einen bösen Traum, während das geisterhaft, blutleer wirkende Gesicht, die unterschiedlichsten Gemütsbewegungen in ihr hervorrief. Mitleid, Wut und Trauer.
Sie lenkte ihr Augenmerk auf die vornehm wirkende Gestalt der Toten, zumindest auf das, was davon sichtbar war. Rückschlüsse auf irgendeine Form von Gewalteinwirkung konnte sie nicht erkennen. Jedoch bemerkte sie, obwohl sie nur wenig von Haute Couture verstand, dass es sich bei dem Kleid der Frau um ein edles Cocktailkleid und keinesfalls um ein billiges Fähnchen handelte.
Der strenge Geruch – Urin. Sie hat sich nass gemacht.
Die schmalen Fesseln an den wohlgeformten Beinen fielen ihr auf. Für Fußkettchen wie geschaffen. Aber sie trägt keines. Ist in ihren Kreisen wohl nicht üblich. Ein Schuh fehlt. Wo der wohl abgeblieben ist? Unwillkürlich suchte sie den Boden des Schuppens ab, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Vermutlich ist er vom Fuß gerutscht, als der Mörder die Leiche vom Tatort hierher transportiert hat.
Sentas Blicke wanderten wieder an der Toten hinauf.
Die Frau trug Schmuck. Einen schmalen Armreif und eine Uhr. Ihre Hand wirkte gepflegt, die Nägel manikürt. Sie trug drei Goldringe, ein zierlicher mit Perle, ein ziemlich auffälliger mit einem grünen Stein – vermutlich Jade und einen Ehering. Sie war also verheiratet. Eine feine goldene Kette nah am Hals fiel ihr ebenfalls auf und die Ohrringe mit demselben Stein, den auch der Ring zierte. Was darauf schließen lässt, dass es sich nicht um Raubmord handelt. Der Ehemann? Hat er sie hier abgelegt? Das Quietschen der Scharniere, das ich für das Maunzen einer Katze hielt.
Plötzlich kam ihr auch das Auto wieder in den Sinn, dessen Motorgeräusch sie vor knapp einer Stunde gehört hatte. Fast glaubte sie, es immer noch zu hören … Die Nerven. Oh Gott, ich muss die Polizei rufen!
Sie bewegte sich langsam einen Schritt rückwärts, drehte sich um und prallte prompt gegen eine Wand. Eine von weichem Stoff umgebene Wand. „Haa, haa“, hauchte sie angstvoll und so leise, als käme ihre Stimme bereits aus dem Jenseits, in das sie nun, instinktiv befürchtend, ebenfalls verfrachtet werden würde.
„Sch…, ich bin ja da“, redete der Mann, der sie um Haupteslänge überragte, mit beruhigend tiefer Stimme leise auf sie ein. Er zog sie fest an sich und streichelte über ihr noch feuchtes, lose auf den Rücken fallendes Haar.