Morgen hast du mich vergessen

Sophie steckte nach und nach alle Kerzen auf Milans Geburtstagstorte und trug sie auf den festlich gedeckten Frühstückstisch. Sie hoffte, er würde Gefallen daran finden, zumal es sich um seine Lieblingstorte handelte – Nusstorte.
Letztes Jahr hatte er sich dadurch an Geschehnisse erinnert, die sie selbst längst vergessen hatte. Solche Tage waren selten geworden, seit vor etwa vier Jahren der schleichende Prozess des Vergessens begonnen hatte.
Sie erinnerte sich an die Tage, als sie manchmal über seine Vergesslichkeit sogar gelacht hatten. Unwillkürlich legte sich bei diesem Gedanken ein Lächeln auf ihre Lippen.

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Gerade hatte Sophie die letzte Kerze auf der Torte angezündet, als Milan fertig angezogen mit seiner Laptoptasche unter dem Arm das Esszimmer betrat.
„Was hast du vor?“, fragte Sophie verblüfft.
„Was habe ich wohl vor? Ich fahre nach Bonn. Michail Gorbatschow landet heute in Deutschland und ich führe das Interview. Du weißt doch, wie sehr ich den Mann verehre“, erklärte er aufgeregt.

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„Oh!“ Das war Juni 1989, dachte Sophie. Sie musste nicht lange überlegen, wie sie ihn dazu bringen konnte, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Inzwischen war sie geübt darin, ihn auf andere Gedanken zu bringen. „Schatz, bevor du fährst, musst du mir aber noch den großen Karton vom Schlafzimmerschrank herunterheben.“
„Wenn es denn unbedingt sein muss“, erklärte er großmütig. Sofort legte er seine Tasche auf das Sideboard, eilte vor Sophie ins Schlafzimmer und öffnete den Schrank. „Was wolltest du noch?“
„Ach, weißt du was, das hat sich erledigt. Jetzt frühstücken wir erst mal gemeinsam, wie jedes Jahr an deinem Geburtstag“, erklärte Sophie, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn sanft auf den Mund. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“, sagte sie lächelnd, bevor sie seine Hand ergriff und ihn ins Esszimmer zog. „Schau, ich habe eine Geburtstagstorte für dich gebacken.“
„Müssten da nicht mehr Kerzen drauf sein?“, fragte er humorvoll, als er sich der Torte zuwandte.
Sophie lächelte. „Stimmt, aber fünfundfünfzig Kerzen bringt man auf einer so kleinen Torte nicht ganz einfach unter.“
„Musst du nächstes Mal eben eine größere kochen.“
„Backen“, verbesserte ihn Sophie unwillkürlich.
„Hab ich doch gesagt“, fuhr er sie an. Doch sogleich lächelte er wieder und fragte: „Soll ich sie ausblasen?“
„Na klar und du darfst dir auch etwas wünschen.“
„Was soll ich mir wünschen?“ Plötzlich schaute er sie durchdringend, so offenbar mit klarem Verstand an, ehe er sagte: „Wirst du mich verlassen? Ich bin dir doch nur noch eine Last.“ Bevor Sophie ihn hinsichtlich seiner Angst beruhigen konnte, schlug seine Stimmung wieder um. Er klatschte einmal in die Hände, beugte sich über die Torte und blies die Kerzen aus.
Seine Fahrt nach Bonn und Michail Gorbatschow waren vergessen.
Nachdem er sich gesetzt hatte, verlief das Frühstück wie an jedem Morgen. Selbst der anschließende Spaziergang war seit einigen Monaten zur Routine geworden.
Während der Nacht hatte es zu schneien begonnen. Eine weiße Schneedecke bedeckte die Umgebung. Sophie liebte den Winter und freute sich an der glitzernden Pracht.
„Es ist Winter“, flüsterte Milan. „Ich mag nicht Schlittschuhlaufen.“
„Schlittschuhlaufen?“, fragte Sophie irritiert.
„Ja. Ich mag das nicht. Der Kerl hat dich geküsst. Ich erinnere mich genau an diesen Idioten, der mit dir über das Eis tanzte. Dieser Musikerfuzzi, den du damals so angehimmelt hast. Wie hieß der nochmal …?
“Sie hatte es sich größtenteils abgewöhnt, von der Zukunft zu sprechen, da Milan selbst das, was für die folgenden Stunden geplant war, wieder vergaß. In seiner Begleitung sprach sie nur über die Gegenwart und sehr oft über die Vergangenheit. Da kamen mitunter Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend zum Vorschein, von denen er ihr nie erzählt hatte. Manchmal traten auch Erinnerungen hervor, die sie gemeinsam erlebt und sie selbst längst vergessen hatte.
Sophie blieb stehen und schaute ihn einige Sekunden unverwandt an. „Ich weiß jetzt nicht, was du …?“
„Jetzt tu bloß nicht so, als wüsstest du nicht, was ich meine. Der Kerl …, wie heißt der nochmal?“, überlegte Milan einige Sekunde krampfhaft, bevor er sich mit dem Handballen gegen die Schläfe klopfte, als könne er dadurch seine Gedanken ordnen. „Jo! Wie kann man nur Jo heißen?“
„Du meinst Jonathan Ottinger. Jo, ist die Abkürzung seines Namens“, erklärte Sophie.
Milan nickte zustimmend vor sich hin. „Schnee! Ist das nicht schön?“, sagte er plötzlich.
Während sich für Milan das Fenster zur Erinnerung bereits wieder geschlossen hatte, erinnerte sich Sophie plötzlich umso deutlicher an jenen Tag und ein leises Kribbeln machte sich in ihrem Magen bemerkbar. Jo! Ja …, Jonathan Ottinger. Mein Gott, war ich verschossen in dich. Ich sehe es noch vor mir, als wäre es gestern gewesen …