Tanz mit mir

Leonies seltene Besuche bei ihren Eltern beschränkten sich auf Löwenstein und nur auf den Ortsteil, in dem diese wohnten. Sie war schon seit Jahren nicht mehr in Weinsberg, weshalb sie auch einigermaßen überrascht die Veränderungen wahrnahm. Die Zufahrtsstraßen schienen breiter, als sie es in Erinnerung hatte und auch das Industriegebiet, an dem sie vorbeifuhr, kannte sie noch nicht. Wie ihr Vater sagte, fand sie einen Parkplatz unter einem schattenspendenden Baum bei der Johanneskirche. Beschwingt lief sie die Kirchstaffel hinunter zum Marktplatz. Der Duft dieser Stadt, sie hätte ihn nicht beschreiben können, doch es handelte sich noch immer um denselben wie vor vielen Jahren. Ein Gefühl von Heimat stieg in ihr hoch, obwohl es inzwischen wie in einem italienischen Touristenort aussah, denn auch hier boten die Geschäftsleute ihre Waren vor den Häusern an. Auch baulich hatte sich einiges getan. Häuser waren zum Teil aufgestockt, zum Teil durch neue, höhere ersetzt und ins Stadtbild eingefügt worden.
Leonie bummelte durch die Geschäfte und erstand etliche „Schnäppchen“. Unter anderem ein bezauberndes bunt geblümtes Sommerkleid mit Spaghettiträgern und passendem Bolero für kühle Abende. Für Erich fand sie ein weißes Hemd mit Jacquard-Muster, das hervorragend zu seinem anthrazitfarbenen Anzug passen würde. Noch an der Kasse wurde sie sich bewusst, wie unsinnig dieser Kauf war. Er hielt nichts von kulturellen Veranstaltungen, egal welcher Art. Erich war der typische „Jeans und karierte-Hemden-Typ“, der in seiner Freizeit, so er sich denn eine gönnte, lieber auf Berge kletterte. Für Dominik fand sie einige T-Shirts und eine Zipp-Off-Hose aus kräftigem Baumwollstoff, die er auf seiner Reise gut gebrauchen konnte.
Nachdem sie fast alle Geschäfte auf dem Marktplatz und auch in den Seitengässchen durchstöbert hatte, meldete sich ihr Magen und forderte sein Recht. Ihr Blick fiel auf ein Restaurant, das sie noch von früher kannte. Sie vertraute darauf, dass der Besitzer zwischenzeitlich nicht gewechselt hatte und steuerte forsch darauf zu. Doch nach wenigen Schritten blieb sie stehen und überlegte, ob es nicht besser wäre, zuvor all die großen und kleinen Tragetaschen zum Auto zu bringen. In Anbetracht ihrer schmerzenden Füße allerdings, auch kannte sie sich gut genug, um zu wissen, dass sie sicher nicht noch einmal hierher zurückkommen würde, wäre sie erst bei ihrem Auto, entschied sie sich dagegen. Zumal die Aussicht auf ein belegtes Brot sie auch nicht gerade vom Hocker riss.
So stand sie voll bepackt vor der Tür des Lokals und bemühte sich ungelenk an den Türgriff zu gelangen. Gerade wollte sie die Taschen absetzen, als sich hinter ihr eine sonore, leicht ironisch angehauchte, dennoch sympathisch klingende Stimme bemerkbar machte.
„Wie ist es, lassen Sie mich vorbei? Ich könnte Ihnen zeigen, wie man eine Tür öffnet.“
„Glauben Sie mir, wenn ich sage, dass ich durchaus im Stande bin, eine Tür zu öffnen? Unter diesen Umständen allerdings“, sie hob die Taschen ein wenig an, „nehme ich Ihr freundliches Angebot gerne an. Dankeschön!“
Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Wie vom Blitz getroffen, begann Leonies Herz heftig zu klopfen. Ihr Atem ging flacher und ihre Knie fühlten sich an wie Wackelpudding, während eine leichte Röte über ihre Wangen zog. Obwohl sie sicher war, diesen Mann noch nie zuvor gesehen zu haben, kamen ihr die Augen irgendwie … Wo habe ich diese karibikblauen Augen schon einmal gesehen?
„Sie hätten die Geschäfte nicht gleich leer kaufen müssen“, sagte er freundlich, worauf sich seine Lippen zu einem amüsierten Lächeln verzogen, das ihn noch um eine Nuance attraktiver erscheinen ließ. Bevor er die Tür öffnete, griff der gutaussehende Fremde lächelnd nach den Taschen in ihrer linken Hand. „Die werde ich zu Ihrem Tisch bringen“, erklärte er. „Das heißt, wenn Sie nichts gegen meine Gesellschaft einzuwenden haben …“, fügte er hinzu und schenkte ihr einen Blick, der ihren immer noch weichen Knien keine Erholung gönnte, „es wäre mir ein besonderes Vergnügen, Sie an meinen Tisch zu bitten.“
„Gerne, wenn ich Sie nicht störe.“
„Im Gegenteil, ich würde mich freuen.“
Nachdem er sich von ihren Taschen befreit hatte, reichte er ihr die Hand und stellte sich kurz vor. „Ri…!“
Wie war das? Ri…? Ausgerechnet jetzt muss dieses verrückte Huhn am Nebentisch so laut gackern, dass ich ihn nicht verstehen konnte. Soll ich ihn nochmal fragen? Wozu? Ich werde ihn ja ohnehin nie wiedersehen. „Schmidinger“, antwortete Leonie fast automatisch und ebenso knapp, während sie sich auf den, von ihm zurechtgerückten Stuhl setzte. „Seit ich das letzte Mal hier eingekehrt bin, hat sich einiges verändert“, erklärte sie, während sie ihren Blick durch das Lokal schweifen ließ. Ich hoffe nur, das Essen ist immer noch so phantastisch?“
„Aber ja! Inzwischen hat allerdings der Sohn das Restaurant übernommen. Er hat die Gerichte sogar noch um einiges verfeinert. Sie sind wohl schon lange nicht mehr hier gewesen?“
„Etwa zwanzig Jahre.“
„Eine Reise in die Vergangenheit also“, stellte er fest.
„Wie man’s nimmt. Man kann an den Ort zurückkehren, die Zeit lässt sich allerdings nicht zurückdrehen und was geschehen ist, kann nicht mehr geändert werden.“
„Traurige Erinnerungen?“
Leonie räusperte sich und überhörte die Frage geflissentlich. „Sie scheinen hier Stammgast zu sein. Laden Sie immer fremde Leute an Ihren Tisch?“
Er lachte sie fröhlich an, während er die Speisekarte ergriff, die ihm der Kellner reichte.
Leonie bemerkte einige feine Fältchen an seinen Augen, die darauf schließen ließen, dass er gerne lachte.
Als er sich in die Karte vertiefte, nutzte sie die Gelegenheit, sich ihr Gegenüber genauer anzusehen. Und was sie sah, gefiel ihr ausnehmend gut. Er wirkte ungeheuer maskulin, smart, ja, fast ein wenig mystisch. Für die Rolle eines Vampirs oder die eines Ritters, der schöne Frauen aus der Gewalt feuerspeiender Drachen befreit, wäre er geradezu prädestiniert, überlegte sie und betrachtete sein markant geschnittenes Gesicht, das von dunklem, verhältnismäßig langem Haar umrahmt wurde. Seine schmale, gerade Nase, die beneidenswert dichten, langen Wimpern, die nun wie Schleier über diesen bemerkenswert blauen Augen lagen. Und wieder überlegte sie, wo sie diese karibikblauen Augen, von denen sie sich geradezu magnetisch angezogen fühlte, schon mal gesehen hatte. Doch sie kam nicht drauf. Stattdessen versank ihr Blick in der Betrachtung seiner weich geschwungenen, so unglaublich erotisch wirkenden Lippen. Wie es wohl ist, von ihnen geküsst zu …? Leonie, rief sie sich zur Räson, konnte trotzdem nicht aufhören, ihn zu betrachten. So vertieft in ihre Betrachtung, bemerkte sie erst, als sein linker Mundwinkel sich spöttisch ein wenig nach oben verzog, dass er sich seiner Wirkung scheinbar durchaus bewusst, sie ebenfalls beobachtete.
„Gefällt Ihnen, was Sie sehen?“
Rasch löste sie ihren Blick von seinem Gesicht und studierte verlegen die Speisekarte. „Entschuldigen Sie, es ist nur …, Sie …, das heißt, eigentlich Ihre Augen, erinnern mich an jemanden. Ich weiß nur gerade nicht …, egal.
Er lächelte schelmisch. „Ich hoffe, er ist so nett wie ich.“
„Keine Ahnung. Zumindest empfinde ich dabei kein unangenehmes Gefühl.“
„Sie sind also hier aufgewachsen?“, hakte er das Thema galant ab.
Leonie nickte. „In Löwenstein. Hier in Weinsberg habe ich meine Ausbildung zur Dekorateurin absolviert. Ein Überraschungsbesuch bei meinen Eltern. Dummerweise nahm ich an, sie würden vor lauter Freude aus allen Wolken fallen, weil ich sie aus ihrem langweiligen Rentnerdasein reiße. Fehlanzeige! Natürlich freuten sie sich. Sehr sogar. Aber es war ziemlich naiv von mir, anzunehmen, dass ausgerechnet meine agilen Eltern zu den Rentnern gehören, die nicht von einem wichtigen Termin zum nächsten hetzen. Wie auch immer, sie hatten den Tag bereits verplant, also zog ich alleine los. Dabei musste ich die Gelegenheit nutzen, mal in aller Ruhe shoppen zu gehen“, erklärte sie und warf einen vielsagenden Blick auf ihre Taschen. „Und das kam dabei heraus.“
Wieder lachte er sie fröhlich an. „Ich dachte mir schon, dass Sie normalerweise nicht als Packesel fungieren.“
Während des Essens bemerkte Leonie beiläufig, wie sehr sich diese Stadt doch verändert habe. Daraufhin erklärte er ihr, was in den Teilen der Stadt verändert wurde, die sie noch nicht zu Gesicht bekommen hatte.
Ab und zu erhoben sie ihr Glas und tranken sich zu.
Als Leonie ihr Besteck auf den Teller legte, die Serviette an ihre Lippen führte, ordentlich zusammenfaltete und neben den Teller legte, lobte sie das gute Essen.
„Sie müssen unbedingt noch ein Dessert versuchen“, meinte ihr Tischherr.
„Auf keinen Fall! Das wäre wirklich zu viel des Guten“, erklärte sie und verdrehte dabei die Augen.
„Sie sind also keine Süße?“
Leonie sah ihn direkt an, und der Schalk blitzte aus ihren Augen, als sie sagte: „Oh, keine Frage, süß bin ich schon. Was dagegen das Dessert angeht, das schaffe ich nicht mehr. Das Essen war ausgezeichnet und ich bin pappsatt.“
„Ein Dessert isst man nicht, um satt zu werden, sondern, um die Lust auf süße Sinnlichkeit zu stillen“, belehrte er sie und lächelte dabei unglaublich charmant.
„Ist das so? Wie auch immer, es wird Zeit für mich“, antwortete sie beim Blick auf ihre Armbanduhr.
„Sie möchten doch nicht etwa schon gehen?“
„Ich muss. Meine Eltern erwarten mich“, erklärte sie, obwohl sie genau wusste, dass sie das sicher nicht taten. Wie sie ihre Eltern kannte, saßen die sicher noch in gemütlicher Runde zusammen. Dennoch wurde es höchste Zeit zu gehen. Denn würde sie noch länger in diese Augen schauen, müsste sie befürchten, ihre moralische Weltanschauung an den Nagel zu hängen. Jedenfalls hätte sie nicht das Geringste dagegen, ihm ihren Hals darzubieten, um sein Dessert zu werden.
„Sie meinen, Ihre agilen Eltern sitzen bereits zu Hause, schauen fern oder gehen unruhig auf und ab, weil ihre erwachsene Tochter“, er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr, „kurz vor acht noch nicht zu Hause ist?“
„Nein, natürlich nicht“, gab sie zu.
„Sie werden denken, dass Sie alte Bekannte getroffen haben. Trinken Sie doch noch ein Glas Wein mit mir“, bat er charmant lächelnd.
„Nein danke, ich muss noch fahren“, antwortete sie und gab dem Kellner dezent ein Zeichen, die Rechnung zu bringen.
„Lassen Sie mich das erledigen.“
„Auf keinen Fall!“
„Bitte betrachten Sie sich als meinen Gast. Es wäre mir eine Freude. Ich fand es nämlich sehr schön, mal nicht alleine am Tisch zu sitzen.“
„Nett, dass Sie das sagen. Trotzdem, nein danke. Ich nehme prinzipiell keine Einladungen von fremden Männern an.“
„Das muss ich dann wohl … noch akzeptieren.“
Hat er „noch“ gesagt? Leonie wandte sich erneut an den Kellner, nickte ihm nur zu, worauf dieser die Rechnung brachte. Sie bezahlte und erhob sich. Bevor sie aber nach ihren Taschen greifen konnte, erhob auch er sich, knöpfte sein Jackett zu, nahm ihre Hand in seine und beugte sich darüber. Wow! Wird er jetzt meine Hand küssen? Leonie konnte ihre Verwunderung nur schwer verbergen. In ihren Kreisen war es nicht üblich, mit Handkuss begrüßt oder verabschiedet zu werden. Ihr Herz schlug bereits wieder bis zum Hals. Eine Sekunde überlegte sie, ihm ihre Hand zu entziehen. Doch davon abgesehen, dass dies wohl äußerst unhöflich wäre, konnte sie seiner Anziehungskraft einfach nicht widerstehen. In Gedanken spürte sie seine Lippen bereits auf ihrer Haut, da hielt er plötzlich inne.
Er blickte ihr noch einmal tief in die Augen, dann drehte ihre Handinnenfläche nach oben.
Schon wollte Leonie ihn fragen, ob er ihr die Zukunft vorherzusagen gedachte. Doch noch bevor ihr eine Silbe über die Lippen kam, küsste er ohne zu zögern ihr Handgelenk an der Stelle, an der ihr Puls kräftig schlug. Atemlos, unfähig zu denken, außerstande zu reagieren, ließ sich Leonie auf das frivol angehauchte Spiel ein. Jedem anderen hätte sie vermutlich empört ihre Hand entzogen, da sie sein Verhalten selbst in dieser aufgeklärten Zeit, als äußerst dreist empfand. Bei ihm dagegen fühlte sie eine tiefe innere Erregung, der sie sich nicht entziehen konnte. Wie hypnotisiert starrte sie auf ihre Hand. Erst, als ihre Lungen reagierten und sie wieder zu atmen begann, wurde sie sich der Intimität dieser Situation bewusst. Rasch entzog sie ihm ihre Hand.
Er richtete sich auf und blickte ihr betroffen, als könne er selbst nicht begreifen, was er getan hatte, in die Augen. „Es tut mir leid“, sagte er mit belegter Stimme. „Nein – tut es nicht. Ich weiß nicht was es ist, aber …, Sie haben mich zutiefst beeindruckt. Wann werde ich Sie wiedersehen?“
„Ich weiß nicht“, antwortete Leonie immer noch leicht verwirrt. „Das Leben geht oft seltsame Wege.“
„Ich bin mir sicher, es hätte nichts dagegen, würden wir ihm einen Schups in die passende Richtung geben. Wie wäre es mit dem gemeinsamen Besuch des Konzertes, das morgen Abend in der Baukelter stattfindet?“
„Verschwinde endlich!“, befahl ihre innere Stimme. „Nein, auf keinen Fall! Tut mir leid, das ist unmöglich“, lehnte sie seine Einladung rigoros ab, fügte dann allerdings, seine Enttäuschung bemerkend, bedauernd lächelnd hinzu: „Es war nett, Ihnen Gesellschaft leisten zu dürfen. Und was den Konzertabend betrifft, fällt es Ihnen sicher nicht schwer, eine passende Begleitung zu finden.“
„Schade, wirklich sehr schade“, bemerkte er ernst. „Es war mir nämlich ein ganz besonderes Vergnügen mit Ihnen zu plaudern. Übrigens, nicht jeder der mir Gesellschaft leisten will, ist mir auch willkommen“, fügte er hinzu, bevor er den Kellner herbeiwinkte. „Bitte helfen Sie der Dame mit den Taschen“, wandte er sich an den jungen Mann.
„Selbstverständlich“, antwortete dieser und ergriff die Tragetaschen.
„Anschließend bringen Sie mir bitte die Rechnung.“
Nachdem der Kellner Leonie vor die Tür geleitet und ihr die Taschen übergeben hatte, überquerte sie den Marktplatz. Pausenlos dachte sie dabei an diesen Herrn Ri… oder wie immer er auch hieß. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einem derart charismatischen Mann begegnet zu sein. Seltsamerweise fühlte ich mich in seiner Nähe wohl und geborgen, als würde ich ihn bereits seit Jahren kennen. Trotz der Gefahr, die eindeutig von ihm ausging und der ich mir auch durchaus bewusst bin. Wie es wohl wäre, in seinen Armen zu liegen? Dieser absurde Gedanke entfachte ein Feuer in ihren Eingeweiden das ihr für Sekunden, da sie glaubte verbrennen zu müssen, den Atem nahm. Dennoch sehnte sie sich danach. So muss sich eine Motte fühlen, die vom Licht angezogen wird und sich selbstmörderisch in die Flammen stürzt. Erschrocken über diesen Gedanken, begann sie schneller zu gehen. Nur weg von hier. Und dann diese Augen …, wo habe ich ebensolch karibikblauen Augen schon einmal gesehen? Lag es an seinen Augen, dass mir dieser Fremde so seltsam vertraut vorkam? Oder bin ich ihm womöglich doch schon einmal begegnet? Nein, unmöglich. Wo auch? Außerdem hätte ich diesen Mann nie im Leben vergessen.
Leonie lächelte noch, als sich plötzlich jemand hinter ihr bemerkbar machte. „Frau Schmidinger, entschuldigen Sie, es sieht so aus, als hätten wir den gleichen Weg.“
Ihr Herz, das sich gerade erst beruhigt hatte, begann erneut wie rasend zu schlagen. „Na, was für ein Zufall.“
„Ich glaube nicht an Zufälle“, sagte er mit einem seltsamen Unterton.
„Ihr Auto steht ebenfalls auf dem Parkplatz vor der Johanneskirche?“, fragte sie misstrauisch.
„Ja, genau. Normalerweise parke ich in der Innenstadt hinter meiner Praxis, doch zurzeit wird der Hof neu gepflastert. Sie gestatten, dass ich Sie begleite? Ich könnte Ihre Taschen tragen?“
Habe ich es hier mit einem Psychopathen zu tun? „Danke, das ist nicht nötig“, lehnte sie höflich ab.
„Ich bin weder ein Dieb noch ein Psychopath. Ich will Ihnen lediglich behilflich sein.“
„Dass Sie kein Dieb sind, glaube ich Ihnen, trotzdem …“
Er lachte fröhlich auf. „Nun geben Sie schon her.“
Obwohl überzeugt, dass er sein Auto nicht dort geparkt hatte, übergab sie ihm einige ihrer Taschen.
„Immer gern zu Diensten. Rufen Sie mich doch einfach an, sollten Sie wieder mal vorhaben, die Geschäfte zu plündern.“
„Darüber muss ich erst nachdenken, aber Sie haben gute Chancen“, meinte sie lachend.
„Ich bin mir nicht sicher, erwähnte ich bereits, dass ich vor einigen Tagen zwei Karten für ein Konzert bekommen habe, das morgen Abend in der Baukelter stattfindet? Hätten Sie nicht Lust, mich zu begleiten?“
„Sie sind ein besonders hartnäckiger Fall. Es tut mir leid, aber wie ich schon sagte, bin ich zu Gast bei meinen Eltern. Ich möchte meine Zeit mit ihnen verbringen.“
„Sie könnten eine Ausnahme machen?“
„Nein, obwohl es mir in diesem Fall wirklich sehr leidtut.“
„Wegen mir oder wegen des Konzerts?“
„Das möchten Sie jetzt gerne wissen, was?“ Leonie lenkte seine Aufmerksamkeit auf ein unverfängliches Thema. Sie hätte seiner tiefen, warmen Stimme stundenlang lauschen können und fand es zunehmend schade, sich von diesem faszinierenden Mann trennen zu müssen.
Beim Parkplatz angekommen, verstaute er sämtliche Taschen und Tüten auf dem Rücksitz ihres Wagens.
„Das war sehr nett von Ihnen“, bedankte sie sich.
„Ich bin immer nett. Geben Sie mir eine Chance und ich beweise es Ihnen.“

„Dazu, fürchte ich, werden Sie keine Gelegenheit bekommen“, erklärte sie, bevor sie sich noch einmal verabschiedete und sich, trotz ihrer Müdigkeit, beschwingt in den Autositz fallen ließ. Schade, dachte sie fröhlich vor sich hin schmunzelnd, wirklich schade, verdammt scha…