Wenn die Schatten länger werden

Nora duschte. Sie ließ sich Zeit, genoss das prickelnde Nass, das warm über ihren Körper floss. Ihr war, als gewinne sie mit jedem Tropfen neue Lebensenergie. Sie hatte eine unruhige Nacht hinter sich, hatte sich von einer Seite auf die andere gewälzt. Und gegen Morgen dann erwacht, geplagt von diesen verdammten Kopfschmerzen. Inzwischen größtenteils verschwunden, war lediglich ein unangenehmer Druck im Kopf zurückgeblieben.
Nachdem sie sich gut abgerubbelt, Slip und T-Shirt angezogen hatte, setzte sie sich auf den runden Badehocker um Socken überzuziehen – seit sie von diesen Kopfschmerzen gequält wurde, viel es ihr schwer sich zu bücken. Noch während sie darüber nachdachte, wurde ihr plötzlich schwummrig vor den Augen, sie hörte lautes Rauschen in ihrem Kopf und noch bevor sie sich mit der Situation auseinandersetzen konnte, wurde es dunkel um sie.
Als sie die Lider wieder aufschlug, blickte sie in Franks Gesicht und bemerkte die Panik in seinen Augen. „Nora, komm zu dir. Um Gottes Willen! Nora, was ist mit dir?“
„Was – was ist …?“, murmelte sie verwirrt. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie auf dem flauschigen Badvorleger lag.
„Nora, was hast du bloß? Wie oft muss ich dich noch bitten, endlich einen Arzt aufzusuchen? Das hat sicher mit diesen Kopfschmerzen zu tun. Mit dem Kopf ist nicht zu spaßen. Da stimmt doch was nicht“, tadelte er.
„Jetzt mach mir nicht auch noch Vorwürfe“, schmollte sie.
„Was erwartest du denn?“, fragte er verärgert. „Ich mach mir Sorgen.“
„Ja, ist ja schon gut“, versuchte sie, ihn zu beruhigen, während sie unsicher den Boden abzutasten begann, um irgendeinen Halt zu finden.
„Langsam. Wie geht es dir jetzt? Ist wieder alles in Ordnung? Mein Gott, was rede ich? Nichts ist in Ordnung. Sag mal, verschweigst du mir etwas? Oh Gott, ich bin völlig durcheinander. Kannst du denn aufstehen?“, sprudelten die Fragen nur so aus ihm heraus.
„Ja, ich denke schon.“ Immer noch benommen, versuchte sie ihren kraftlosen Körper mühsam aufzusetzen.
Frank ging das offenbar zu langsam, denn er hob die zarte Gestalt kurzerhand auf seine Arme, trug sie ins Schlafzimmer, wo er sie behutsam aufs Bett legte und fürsorglich zudeckte.
„Ich rufe jetzt Doktor Benrath“, sagte er knapp und wandte sich zur Tür.
„Warte! Ich habe heute um neunuhrdreißig einen Termin im Krankenhaus. Doktor Benrath hat mich bereits untersucht. Er hat mich an Doktor Steiner überwiesen und der …“
„Steiner? Die Praxis am Marktplatz. Ist der nicht Neurologe?“, unterbrach er sie.
Nora nickte. „Der Termin war gestern. Doktor Steiner ließ zunächst ein EEG erstellen und untersuchte mich dann neurologisch – Reflexe, Motorik, Gleichgewichtssinn und Sehvermögen. Als ich ihm von den immer wiederkehrenden starken Kopfschmerzen erzählte und davon, dass ich mitunter Dinge doppelt sehe, wirres Zeug rede und manchmal beim Sprechen regelrechte Aussetzer habe, nickte er nur und meinte, um sicherzugehen, wären weitere Untersuchungen von Nöten. Er will, dass ich ein CT machen lasse. Darum überwies er mich in die Klinik.“
Frank starrte sie ungläubig an. „Warum hast du mir davon nichts erzählt? Du hättest mir das sagen müssen. Oh Gott, Nora, hoffentlich ist es nichts Schlimmes“, meinte er besorgt.
Sie zog die Augenbrauen hoch und zuckte unmerklich mit den Achseln. „Siehst du, darum habe ich dir nichts gesagt, damit du dir nicht Sorgen machst, bevor überhaupt feststeht was mir fehlt. Aber jetzt …, Frank, ich habe Angst. Jetzt noch mehr als gestern.“
„Warte!“ Er lächelte verlegen. „Lauf nicht weg, ja?“, versuchte er zu scherzen. „Ich komme gleich wieder.“
Nora hörte, wie Frank mit seinem Chef sprach. Nichts anderes hatte sie erwartet. Selbstverständlich würde er sie in die Klinik begleiten.
Als er zu ihr zurückkam, setzte er sich schweigend auf den Bettrand. Lächelnd ergriff er ihre Hände, zog sie fest in seine Arme und streichelte tröstend über ihren Rücken. „Wie geht es dir?“
„Ich habe wieder starke Kopfschmerzen und …, nur so ein Gefühl, als wäre ich gar nicht richtig hier“, flüsterte sie.
„Du wirst das schon schaffen“, versuchte er sie zu beruhigen, während er sie wie ein Kind in seinen Armen wiegte.
Die Zeit schlich förmlich dahin.
Nora warf einen Blick auf den Wecker. Erst zwanzig nach acht.
„Erst kurz nach acht“, bemerkte auch Frank in diesem Moment. „Hätte ich bloß den Notarzt gerufen“, fuhr er ungeduldig fort, „dann wärst du längst in der Klinik.“
Nora seufzte. Gestern, dachte sie, war alles noch nicht so …, so …, sie suchte nach dem richtigen Wort, fand es aber nicht. Jedenfalls, sinnierte sie weiter, handelte es sich gestern bei diesem Kliniktermin lediglich um eine Vorsorgeuntersuchung. Jetzt scheint alles anders zu sein.
„Wir fahren!“, riss Frank sie plötzlich aus ihren Gedanken. „Ich kann nicht länger warten. Komm, steh auf, ich helfe dir beim Ankleiden und dann fahren wir.“
Während der Fahrt sprach Nora kein Wort. Nicht einmal klar denken konnte sie. Und Franks aufmunternde Worte nervten eher, statt sie zu beruhigen. Er hat Angst um mich, dachte sie verständnisvoll. Die starke Heldin in einem sentimentalen Liebesfilm, die sich von keinem Schicksalsschlag unterkriegen lässt, würde in so einer Situation vermutlich ihren verzweifelten Ehemann trösten. Aber ich bin nun mal keine Heldin und das hier ist kein Film, sondern bittere Realität.
Nora hatte Angst. Dabei wusste sie noch nicht einmal wovor.
Nachdem sie einer jungen Frau im Anmeldezimmer einige Fragen beantwortet hatte, bat diese sie freundlich, noch kurz Platz zu nehmen, man würde sich gleich um sie kümmern.
Auf einem Stuhl ganz in ihrer Nähe, saß eine sehr junge Frau, die ebenfalls unter einer Krankheit im Kopf zu leiden schien. Ihr giftgrüner Turban, der melancholische Ausdruck auf ihrem Gesicht, die Art sich unruhig umzusehen, während sie unkonzentriert in einer Zeitschrift blätterte und dann wieder mit dem Mann an ihrer Seite sprach, ließen darauf schließen.
Ein kräftig wirkender Mann im Rollstuhl sitzend wurde hereingefahren. Sein Alter war schlecht zu schätzen. Die Frau, die ihn schob, vermutlich seine Ehefrau, beugte sich nach einem Zeichen seiner linken Hand, besorgt und überaus liebevoll über ihn. Gleich darauf griff sie in ihre hellblaue Umhängetasche und beförderte eine Flasche Wasser hervor, von der sie ihn vorsichtig trinken ließ. Er selbst schien nicht mehr in der Lage sie zu halten.
Während sich Nora weiter umsah, fragte sie sich, welches Schicksal sie womöglich mit einem dieser Menschen teilte.
Nach etwa einer halben Stunde unruhigen Wartens, wurde sie von einer altjüngferlich anmutenden Frau im weißen Kittel aufgerufen und in den Untersuchungsraum geführt.
Ein junger Arzt klärte sie über die Komplikationen dieser Untersuchung auf: „In seltenen Fällen kann es zu einer Überempfindlichkeitsreaktion kommen, wie Niesreiz, Übelkeit, Schwindel oder Kopfschmerzen. Informieren Sie uns dann bitte sofort.“
Nora nickte.
Gleich darauf trat eine freundlich lächelnde Ärztin auf sie zu, deren blasses Gesicht müde wirkte. Während sie ihr ein Kontrastmittel in die Vene der Armbeuge spritzte, erklärte sie ihr, dass sich dadurch eventuell ein Wärmegefühl im Körper entwickeln könnte, das jedoch schnell wieder verschwinden würde. Das Kontrastmittel sei aber notwendig, um die Aussagekraft der Bilder zu erhöhen. Sie lächelte Nora noch einmal aufmunternd zu, bevor sie eine Assistentin herbeiwinkte, die sie in den Raum führte, in dem der Computertomograph stand. Dort bat man sie, ihren Schmuck abzunehmen und sich flach auf den Tisch des Geräts zu legen. Die Assistentin erklärte ihr, dass sich der Tisch langsam durch die Öffnung bewegen und die Röhre sich spiralförmig und kontinuierlich um sie drehen würde. Ganz nebenbei reichte sie ihr Kopfhörer und bat sie, diese aufzusetzen. „Damit die Aufnahmen nicht verwackeln“, erklärte sie weiter, „ist es notwendig ruhig liegen zu bleiben und auf die Atemkommandos zu achten, die Ihnen über die Kopfhörer vermittelt werden.“
Die Prozedur dauerte etwa eine halbe Stunde. Nachdem ein Pfleger ihr vom Tisch geholfen hatte, bat die Ärztin sie, sich einen Moment zu gedulden.
Der besorgte Ausdruck, den Nora in den Augen der jungen Frau bemerkte, verstärkte das ungute Gefühl, das sich mittlerweile in ihr breitgemacht hatte. Zudem kam sie sich seltsam ausgeliefert vor.
Als die Ärztin sie dann bat, ihr in Doktor Neuners Sprechzimmer zu folgen, atmete sie nur noch flach, doch ihr Puls begann zu rasen. Was hat das zu bedeuten? Sollen die Untersuchungsergebnisse nicht an Doktor Steiner weitergeleitet werden? Es ist also noch schlimmer, als ich ohnehin befürchtet hatte.
Doktor Neuner, ein untersetzter Mann mit buschigen Augenbrauen, betrachtete konzentriert die CT-Bilder, als sie und Frank eintraten. Nickend wandte er sich ihnen zu, begrüßte sie freundlich und bat sie Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich ihr gegenüber auf die Kante seines ziemlich stabil wirkenden Mahagonischreibtisches.
„Frau Baumann, ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Wir haben es hier mit einem höchst bösartigen, schnell wachsenden, primären Tumor zu tun. Das heißt, es handelt sich um einen vom Hirngewebe selbst ausgehenden, aus den Gliazellen des Gehirns entstandenen Tumor. Ein Glioblastom. Ihre CT-Bilder zeigen das typisch unregelmäßig geformte Glioblastom mit randständig starker Kontrastmittelaufnahme. Ebenso typisch dafür ist die girlandenartige Formation.“
Tut es ihm wirklich leid, dass nicht wir, sondern ich einen Tumor habe? Redet er deshalb so schnell und so viel? Totreden …? Ja genau, das nennt man doch totreden? „Was heißt das genau?“, fragte Nora, darum bemüht, gefasst zu wirken, obwohl es in ihrem Kopf hämmerte und sie sich gedrängt fühlte, laut zu lachen. Du kannst jetzt nicht lachen, der denkt sonst, du spinnst.
„Wir benötigen noch ein MRT.“
„Ein MRT? Wozu?“, wollte Nora wissen.
„Ein CT liefert nur horizontale Schnittbilder. Ein MRT liefert Bilder ganz beliebiger Schnittführungen, wie zum Beispiel horizontale, diagonale oder vertikale. Das ermöglicht uns eine präzise Beurteilung der einzelnen Gewebestrukturen und damit eine sehr genaue Diagnose“, erklärte er.
„Ach so.“
„Außerdem werde ich eine stereotaktische Hirnbiopsie zur Bestätigung der Diagnose vornehmen. Dabei wird Gewebe aus dem betroffenen Areal entnommen und ausgewertet. Dann sehen wir weiter. Jedenfalls müssen wir schnellstens operieren. Und Frau Baumann, … ich muss Sie darauf hinweisen, dass mit entfernen der Hauptmasse des Tumors, das Fortschreiten der Erkrankung nur verlangsamt, aber nicht dauerhaft verhindert werden kann, da einzelne Tumorzellen das gesunde Gehirngewebe immer schon infiltrativ durchwandert haben. Eine Radikalresektion ist in diesem Sinne nicht möglich. Selbst mit einer Bestrahlung und einer Chemotherapie können diese nicht vollständig abgetötet werden.“
„Doktor Neuner, wenn ich ihre Ausführungen richtig verstanden habe, bedeutet diese Diagnose letztendlich für mich, dass ich sterben werde.“
Einen Moment presste er die Lippen zusammen, dann räusperte er sich. Offenbar fiel es ihm, nach all den Diagnosen und Prognosen die er im Laufe seiner Berufsjahre erstellt hatte, immer noch schwer, die unheilvollen Worte auszusprechen. Er nickte bestätigend. „Es tut mir leid. Diese Krankheit ist lebensbegrenzend.“
„Lebensbegrenzend?“ Was für ein Wort. „Wie viel Zeit geben Sie mir noch?“, fragte Nora leise.
„Sie erwarten doch nicht wirklich, dass ich jetzt eine Prognose abgebe? Warten wir doch erst mal die Biopsie ab.“
„Doktor“, meldete sich nun Frank, dem es erst mal die Sprache verschlagen hatte, „sagen Sie uns Ihre Meinung. Bitte!“
„Wenn Sie sich operieren lassen, zwei Jahre, eventuell länger, genauso gut kann es auch schneller gehen. Ich weiß es nicht, ich gehe hier von allgemein bekannten Erfahrungswerten aus. Sollten Sie sich jedoch nicht operieren lassen, zirka drei, vier Monate. Doch auch das sind nur Erfahrungswerte. Es gab Patienten, die nach der Operation länger als zwei Jahre lebten, aber auch solche, die es nicht einmal zwei Monate schafften. Einer meiner Patienten, den ich vor dreieinhalb Jahren operierte, lebt immer noch. Es geht ihm gut. Gestern starb eine Frau, die sich einer Operation verweigerte, vier Wochen nach der Diagnose. Bei einer anderen Patientin habe ich vor zirka einem halben Jahr ein Glioblastom diagnostiziert. Auch sie unterzog sich keiner Operation. Sie lebt noch. Trotzdem sind die Chancen, Zeit zu gewinnen, nach einer Radikalresektion entschieden größer.“
Frank sprang von seinem Stuhl auf. Unwillkürlich fuhr er mit allen zehn Fingern durch sein kräftiges dunkles Haar und zerrte daran, als würde ihm auf diese Weise eine Offenbarung zuteilwerden. Das tat er immer, wenn er nervös war oder nicht mehr weiterwusste. „Du musst dich auf jeden Fall operieren lassen, Nora“, beschwor er sie.
Nora nickte unweigerlich.
Doktor Neuner rutschte von der Schreibtischkante, ging um denselben herum und nahm in dem schwarzen Ledersessel Platz. „Wir setzen am besten gleich den OP-Termin fest“, meinte er. Sich auf den Monitor seines PCs konzentrierend, gab er einige Daten ein. Dann schrieb er mehrere Zahlen auf einen Zettel und reichte ihn Nora.
Während der Fahrt nach Hause hingen beide jeweils ihren eigenen düsteren Gedanken nach …
Nora warf einen Blick auf Frank. Er schien sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren, aber an seiner angespannten Haltung erkannte sie, dass er sich gedanklich mit ihr und dem Tumor beschäftigte. Sie dagegen versuchte, die entsetzlichen Gedanken, die unaufhörlich an die Tür ihres Bewusstseins klopften, auszuschließen. Dabei fühlte sie sich wie jemand, der diese Tür, die bereits einen Spalt weit offenstand, wieder zuzog und sich gegen die Tür stemmend, an den Türgriff klammert, um zu verhindern, dass sie erneut geöffnet wird. Und das obwohl er wusste, dass ihm dies auf Dauer nicht gelingen konnte.
Zu dumm, ich habe vergessen, bei den Mayers abzusagen, da muss ich gleich anrufen. Den Termin könnte ich eventuell auf morgen Vormittag verlegen. Morgen Vormittag, da war doch was …? Ja richtig, da ist das Treffen mit den Verantwortlichen des neuen Jugendzentrums. Na mal sehen, ich krieg die Mayers schon unter. Das Hähnchen! Mist! Ich habe das Hähnchen nicht aus der Gefriertruhe genommen. Egal, dann gebe ich es zum Auftauen in die Mikrowelle. Es regnet. Muss das jetzt sein?
Frank schaltete die Scheibenwischer an.
Eine Weile beobachtete sie deren regelmäßiges Hin und Her. Dann blickte sie aus dem Seitenfenster. April, April, tut was er will …

*

Kaum merklich schüttelte Nora den Kopf. Ihr Blick fiel erneut, ohne es wirklich wahrzunehmen, auf das Tagebuch in ihrer Hand. Zu dem Zeitpunkt war mir zwar klar, was diese Diagnose bedeutete, aber irgendwie schien alles so unwirklich zu sein. Ich fühlte mich wie in einem Albtraum, einem Albtraum, aus dem ich jeden Moment erwachen müsste …

*

Nora stieg aus dem Wagen und wartete teilnahmslos vor der verschlossenen Haustür, bis Frank sie öffnete. „Ich bin müde. Macht es dir was aus, wenn ich mich ein wenig niederlege?“, fragte sie so normal, als hätte sie nur einen harten Arbeitstag hinter sich.
Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen aus denen er sie zunächst verwundert, dann, als erwache er genau in diesem Moment, zunehmend verstehend betrachtete. Die entsetzliche Nachricht, die sie beide bis tief ins Mark getroffen hatte, wurde zwingend von Gedanken begleitet, die sich zunächst im Kopf breitmachen – rationale Gedanken. Doch nun zeigte die Mimik seines Gesichts, was sein Herz in aller Deutlichkeit zu begreifen schien – er würde sie verlieren. „Nein, nein, natürlich nicht“, murmelte er. „Aber wir müssen reden, wir müssen … Nora, mein Gott. Nora, warum du?“
„Warum nicht ich?“, fragte sie sanft. „Wen würdest du statt meiner sterben lassen?“
„Mich …! Mich!“, wiederholte er noch einmal. „Denn ohne dich verliert das Leben für mich sowieso jeden Sinn.“
Nora schüttelte den Kopf. „Rede doch keinen Unsinn. Du wirst das schaffen, du und die Kinder. Sie sind der Sinn deines Lebens, vergiss das nicht. Du wirst all das tun, wozu ich nicht mehr in der Lage bin.“
„Wozu du nicht mehr …? Klingt, als träfst du ein Arrangement für einen Kuraufenthalt. Aber so einfach ist das nicht. Ich schaffe das nicht. Ohne dich bin ich nichts. Ich liebe dich und ich will dich nicht verlieren. Mein Gott!“ Er packte sie an ihren Oberarmen, als wolle er sie schütteln. „Nora hast du überhaupt begriffen, was der Arzt gesagt hat? Du wirst sterben.“
„Das war Teil der Abmachung, als wir uns entschlossen geboren zu werden“, sagte sie, immer noch in diesem aufreizend sanften Ton.
„Nora, verdammt!“, fluchte er verzweifelt. Er zog sie in seine Arme und legte sein Kinn auf ihrer Schulter ab. „Ich will dich nicht verlieren, du musst wieder gesund werden.“
Nora starrte, bemüht die Fassung zu bewahren, über ihn hinweg. Sie schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter und strich tröstend über seinen Rücken. „Frank finde dich mit den Tatsachen ab. Je schneller du das tust, umso besser wirst du mit dieser Situation umgehen können.“
„Das werde ich sicher nicht. Wie könnte ich? Plötzlich ist alles so sinnlos geworden.“
„Nichts ist sinnlos. All das, was während unseres Lebens geschieht, ergibt irgendeinen Sinn, auch wenn wir diesen mitunter nicht sofort verstehen. Dennoch müssen wir gewisse Dinge so akzeptieren, wie sie nun mal sind.“
Wieder fuhr Frank sich mit beiden Händen durchs Haar. „Sag mir einen vernünftigen Grund, warum du sterben musst?“
„Das kann ich nicht. Aber wer weiß, irgendwann, wenn wir uns da oben wiedersehen, wirst du es vielleicht erfahren und du wirst dich an meine Worte erinnern.“
Frank lächelte. „Du und deine Philosophien. Doch egal was noch geschieht, ich bin bei dir und werde dich halten, wenn es sein muss, bis zu deinem letzten Atemzug.“
Sie nickte. „Ich weiß. Da ich den aber voraussichtlich nicht in den nächsten Stunden machen werde, lass mich ein wenig alleine. Bitte.“
„Wie du willst. Ich gehe an die frische Luft, sonst ersticke ich an deiner Gelassenheit.“ Er eilte aus dem Haus und ließ die Tür laut ins Schloss fallen.
Nora blieb mit hängenden Schultern zurück, starrte auf eine Wand ihrer Diele, als wäre diese gar nicht vorhanden. Ihr war zumute, als stünde sie in einem Vakuum. Sie fühlte sich ausgebrannt. Da existierte nichts mehr, nur diese unendliche Leere. Doch dann atmete sie einmal tief durch und plötzlich löste sich ihre innere Erstarrung. „Ich werde sterben!“
So schnell sie konnte, lief sie in den Keller, stolperte auf einer der Stufen, fing sich und lief weiter, lief über den langen Flur in Franks schalldichten Proberaum. Dort angekommen schloss sie die Tür und schrie, schrie so laut sie konnte, schrie sich die Angst und die Wut von der Seele, schrie, bis sie nicht mehr schreien konnte. Nach Atem ringend, lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Tür, um dann völlig entkräftet an ihr hinunter zu rutschen und vornüber auf die Knie zu sinken.
Ich werde sterben. Ich werde einfach nicht mehr da sein und Tristan und Lena werden ohne Mutter sein. Wer wird Tristan aufmuntern, wenn er wieder mal nen Hänger hat und Lena, die immer alles bis aufs kleinste i-Tüpfelchen erzählen muss … Sie wird lernen mit ihrem Vater über all die Dinge zu sprechen, die eine angehende Frau normalerweise mit der Mutter bespricht. Oh Gott, ich werde meine Kinder nie mehr in meinen Armen halten, werde sie nie mehr streicheln können. Ich werde nie mehr meiner Arbeit nachgehen, nie mehr durch das kleine Wäldchen joggen, nie mehr reiten, nie mehr schwimmen können. Und den Schluss meiner Lieblingsserie werde ich auch nicht mehr mitbekommen. All das, was mein Leben ausmacht, wird immer noch getan werden, das Leben auf diesem Planeten wird weitergehen, aber ohne mich. Ich werde sterben! Was schockt mich daran eigentlich so sehr? Alle Menschen müssen eines Tages sterben. Das ist eine Tatsache, um die wohl noch niemand herumgekommen ist. Zumindest ist mir keiner bekannt. Außer Jesus natürlich, aber selbst der musste zuerst sterben, bevor er ins ewige Leben eingehen konnte. Seltsam, obwohl wir tagtäglich mit diesem Wissen und vor allem damit, dass es uns eines Tages selbst widerfahren wird, konfrontiert werden, belastet es uns kaum. Es schlummert tief in unserem Unterbewusstsein und nur, wenn uns das Leben daran erinnert, denken wir kurz darüber nach, verdrängen es aber gleich wieder. Der Tod ist wie ein wildes Tier, das im Hinterhalt lauert, darauf bedacht, Beute zu reißen. Nein! Er ist wie ein weiser alter Mann, der sich im Verborgenen aufhält, um uns nicht zu erschrecken. Nur, wenn wir einen geliebten Menschen zur letzten Ruhe betten, zeigt er sich uns, dann verschwindet er wieder. Lässt uns unser Leben weiterleben, ohne uns zu ängstigen. Warum ist das so? Warum fürchten wir den Tod nicht, solange wir nicht wissen, wann er kommt? Und warum ändert sich das schlagartig, wenn er an unsere Tür klopft? Vielleicht, weil sich der Alte bis zu diesem Zeitpunkt nur von hinten zeigt? Das ändert sich, wenn wir ihm gegenüberstehen. Der Tod zeigt sein Gesicht – das Sterben.
Ich weiß, wie die biologischen Abläufe des Sterbens sind. Die Wahrnehmung wird durch verringerte Hirnaktivität eingeschränkt, die Atmung wird flacher, das Sehvermögen zunehmend schlechter, das Hörvermögen funktioniert nur noch eingeschränkt und das Augenlicht erlischt völlig, bevor das Herz aufhört zu schlagen. Einfach so, unmittelbar gefolgt vom Hirntod. Aber jetzt weiß ich auch, zumindest ansatzweise, wie die Zeit davor sein wird.
Zaghaft lösten sich die ersten Tränen, wurden zu Rinnsalen und benetzten ihre Wangen, während ihr Körper von heftigen Weinkrämpfen durchgeschüttelt wurde. „Gott lass mir Zeit, ich habe noch so vieles zu erledigen. Hörst du? Du musst mir Zeit geben, ich kann jetzt noch nicht sterben. Bitte Gott, du kannst ein Wunder geschehen lassen.“
Heftige Kopfschmerzen waren die Antwort auf ihre Bitten. Als sie wenig später, mit von Tränen verschmierter Wimperntusche den Raum verließ, wusste sie, dass all das nicht zählte, dass die anderen ihr Leben, leben würden, egal ob sie es teilen würde oder nicht. Sie würden sich arrangieren. Ja, es würde sicher anders verlaufen, als sie es geplant hatte, doch für die Kinder und Frank würde es das Leben sein, das es zu leben galt, auch ohne sie.
Jetzt ging es um ihr Leben, sie würde nicht so einfach sterben, nicht ohne richtig gelebt zu haben.
Sie ging ins Bad und wusch sich das Gesicht. Dann betrat sie die Küche, nahm das Hähnchen aus der Gefriertruhe und gab es in die Mikrowelle zum Auftauen. Währenddessen führte sie souverän einige Telefonate, als wäre nichts Wesentliches geschehen. Anschließend ging sie wieder in die Küche, machte sich daran das Hähnchen zu würzen, es auf den Grillspieß zu stecken und in den Backofen zu hängen. Fertig, dachte sie, wusch sich noch einmal die Hände und schlenderte ins Wohnzimmer. Müde stellte sie sich ans Fenster und betrachtete wehmütig ihren Garten, der sich jetzt im Frühjahr am schönsten zeigte. Noch immer blühten vereinzelt bunte Primeln zwischen Gruppen von roten Tulpen, blauen Hyazinthen und gelben Osterglocken.
Die Forsythie ist fast verblüht. Dafür hat der Kirschbaum bereits sein rosa Kleid angelegt und die Purpur Magnolie zeigt ihre prächtigen Blüten. Bald werden sich die Knospen der Pfingstrosen öffnen. Werde ich das noch erleben?
Frank, der etwa zehn Minuten später zurückkam, sah sie nur einen Augenblick zögernd an, dann ging er auf sie zu und nahm sie wortlos in die Arme. Obwohl er sich manchmal wie ein Macho benahm, wenn sie ihn brauchte, war er stets für sie da.
Das Gespräch mit den Kindern das sie an diesem Abend führten, verlief ruhig. Da auch sie diese Mitteilung erst mal verarbeiten mussten.
Tristan erhob sich, zuckte nur hilflos mit den Achseln und küsste Nora auf die Wange. „Entschuldige Mama, ich …“
„Ist schon gut, wir sprechen später oder morgen noch mal darüber, aber wenn du mich oder Papa brauchst, dann komm zu uns.“
Er nickte nur und verließ den Raum.
Nora wäre ihm gerne gefolgt. Sie wusste, was er jetzt empfand, er hatte bereits erfahren, was sich hinter dem Namen Glioblastom verbarg. Der Vater eines Freundes war daran gestorben, nachdem er einige Monate im Rollstuhl und die letzten Tage im Bett verbracht hatte. Nach und nach hatten seine Organe aufgehört zu funktionieren. Alle, die ihn kannten und liebten, hatten Gott letztendlich angefleht, ihn zu sich zu holen, weil sie ihm das qualvolle Dahinsiechen gerne erspart hätten und weil es für sie unerträglich geworden war, ihm dabei zuzusehen. Armer Tristan, dachte sie, wie kann ich ihm helfen, diese Nachricht zu verkraften? Sicher legt er sich jetzt auf sein Bett, setzte sich den Kopfhörer auf und lässt sich, an die Decke starrend, von lauter Musik zudröhnen.
Lena, die noch nichts von dieser Krankheit wusste, wirkte zuversichtlich. Zumindest ließ das ihre gelassene Mimik erkennen. Sie war stets so stolz eine Mutter zu haben, die immer gut drauf war. Eine Mutter, um die sie, wie sie stets betonte, von ihren Freundinnen beneidet wurde. Nicht zuletzt, weil sie sich verständnisvoller und toleranter verhielt als die Mütter der anderen Mädchen. Ganz so, wie die Mädchen das von einer Künstlerin erwarteten. Sie zeigte sich nie leidend wie Beates Mutter, der, kaum dass sie etwas gearbeitet hatte, der Rücken so wehtat, dass sie sich niederlegen musste. Und auch nicht wie Iris Mutter, die, laut deren Aussage, ständig erkältet, mit Taschentuch bewaffnet, schniefend durchs Haus lief. Ekelhaft, hatte Lena deren Leiden beschrieben.
Als es langsam dunkel wurde und Tristan offenbar immer noch kein Interesse zeigte, sein Zimmer zu verlassen, ging Nora zu ihm. Sie klopfte kurz an die Tür, bevor sie die Klinke herunterdrückte. Abgeschlossen! „Tristan“, rief sie durch die Tür und klopfte noch einmal. Keine Reaktion. Schon wollte sie sich enttäuscht zurückziehen, da hörte sie, wie der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.
Er öffnete die Tür, drehte sich um und ging, ohne ein Wort zu sagen, mit gesenktem Kopf zu seinem Bett zurück. Erst als Nora sich auf den Bettrand gesetzt hatte, begann er zu sprechen.
„Tut mir leid Mama, ich kann nicht mehr klar denken. Du hast einen“, es fiel ihm sichtlich schwer, das Wort auszusprechen, „Gehirntumor. Du willst dich operieren lassen und du hast vor, zu kämpfen. Was solltest du auch sonst tun? Aber ich weiß, was auf dich zukommt. Oh Mama, nicht du. Warum du?“ Mit Tränen in den Augen, die Hände zu Fäusten geballt, gegen seine Schläfen gepresst, starrte er an die Zimmerdecke und rief wütend: „Wo ist denn dein Gott der Liebe, von dem du immer sprichst? Und wenn es ihn wirklich gibt, was ich im Moment stark bezweifle, wie kann er dann so grausam sein, mir meine Mutter zu nehmen?“ Verzweifelt ließ er sich plötzlich in Noras Arme sinken und weinte bitterlich.
Nora fühlte sich hilflos, wie nie zuvor in ihrem Leben. Wie sollte sie ihm helfen, da sie doch nicht einmal sich selbst helfen konnte? Sie schloss ihre Arme fest um ihn und weinte mit ihm, bis sie keine Tränen mehr hatten.
Es folgte eine grauenvolle Nacht. Ihre Gedanken drehten sich nur um die Krankheit, um ihre Familie und um all das, was es noch zu tun gab. Sie wusste, dass Frank, der stumm neben ihr lag, ebenfalls keinen Schlaf fand, doch keiner sprach ein Wort. Einmal hörte sie ihn leise schnarchen. Normalerweise musste sie nur an seinem Kissen ziehen, dann hörte er damit auf, drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter. In dieser Nacht ließ sie es zu, da es vielleicht das letzte Mal war, dass sie ihn schnarchen hörte.
Auf die Nacht folgte ein Tag, an dem sie nicht über die Krankheit sprachen und es folgte ein weiterer, an dem sie sich elend fühlte, von Kopfschmerzen, Übelkeit und Ängsten gequält. Sie zog sich in ihr Schlafzimmer zurück, ließ die Rollos herunter, verkroch sich ins Bett und dachte über Tristans und Lenas Zukunft nach. Was darf ich davon wohl noch miterleben, was werde ich versäumen?
Wie so oft während der letzten Tage setzte sie sich mit ihrer eigenen Endlichkeit auseinander.

Als Frank gegen Abend von der Arbeit nach Hause kam, sprachen sie lange miteinander. An diesem Abend begann sie, die Krankheit zu akzeptieren …*

Immer noch nachdenklich, einen Schleier sanfter Melancholie über den Augen, blickte Nora durch das große Fenster in den mittlerweile abendlich anmutenden Park. Endlich, nach dem ungemütlich kalten und verregneten März, hatte jetzt im April der Frühling endgültig Einzug gehalten. Bäume und Sträucher standen in voller Blüte und erinnerten sie im Zwielicht der untergehenden Sonne an ein Gemälde von Thomas Kinkade.
Mehr oder weniger interessiert beobachtete sie eine alte Frau, die allein auf der Bank, unter dem noch nicht erblühten Fliederbusch saß. Ihr Gesicht hatte sie der Sonne zugewandt, um die letzten wärmenden Strahlen in sich aufzunehmen. Beim Anblick eines jungen Pärchens, das händchenhaltend durch den Park schlenderte, wobei sich die junge Frau immer wieder verliebt an die Schulter des Mannes schmiegte, musste Nora unwillkürlich lächeln. Dann entdeckte sie die beiden Männer, die nah vor einer Bank standen. Sie unterhielten sich derart angeregt über ein offensichtlich wichtiges Thema, dass sie vergaßen, sich zu setzen. Oder stritten sie etwa? Nein, jetzt lachten beide.
Machen diese und ähnlich friedvoll anmutenden Szenen der Harmonie, das wesentliche unseres Lebens aus? Tatsache ist, dass traurige, mitunter grauenvolle Ereignisse, die tagtäglich auf der ganzen Welt geschehen, uns nur wenig berühren. Es sei denn, sie betreffen uns selbst. Ein Unglück trifft immer nur den, dem es geschieht, vielleicht noch die Angehörigen. Für all die anderen dreht sich die Erde weiter, als wäre nichts geschehen.
Während Noras Blick über die kahle, lediglich mit einem Kreuz geschmückte Wand des Zimmers gleitete, erinnerte sie sich an den heutigen Morgen. Frank hatte sie ins Krankenhaus gebracht. In seinen Augen hatte sie maßlose Hilflosigkeit und Schmerz gesehen. Beides hatte ihn während der letzten Tage nie ganz losgelassen. Sein um diese Jahreszeit bereits leicht gebräuntes Gesicht, hatte entsetzlich grau gewirkt. Die feinen Linien, die dieses markante Gesicht seit geraumer Zeit zu durchziehen begannen und es noch interessanter machten, schienen tiefer geworden. Seine ohnehin schmalen Lippen, die er fest zusammengepresst hatte, glichen einem dünnen Strich. Nichtsdestotrotz, oder gerade deshalb, hatte er eine innere Kraft ausgestrahlt, die ihr geholfen hatte, ebenfalls stark zu sein oder wenigstens so zu tun.
Nora fröstelte. Glioblastom, wann wird dieses Wort seinen Schrecken verlieren?
Glioblastom – hinter diesem Namen verbarg sich so ziemlich das Bösartigste, das es an Krankheiten gab, das wusste sie mittlerweile. Ein Todesurteil, das in den meisten Fällen langsam und qualvoll vollstreckt wurde. Sie hatte Fachzeitschriften gelesen, im Internet recherchiert und Berichte Betroffener gelesen. Manche hatten ihr sogar Hoffnung vermittelt. Auch mit Doktor Neuner hatte sie gesprochen. Er hatte versucht, ihr Mut zu machen, hatte sie angehalten zu kämpfen. Dennoch fragte sie sich, ob es sich bei dem operativen Eingriff, der Chemo- und Strahlentherapien nur um Eventualitäten handelte, dieses Leiden zu verlängern? Oder handelte es sich dabei um eine reelle Chance, dem Leben noch eine besonders aufregende, tiefgründige und ereignisreiche Zeit abzugewinnen?
Wie auch immer, darüber will ich jetzt nicht nachdenken.
Frank würde bald mit den Kindern kommen. Sie wollten diesen Abend mit ihr gemeinsam verbringen. Dabei würde sie in deren besorgten Gesichtern wie in einem offenen Buch lesen. Sie würde die Angst in ihren Augen sehen. Das wiederum würde ihr geradezu körperliche Schmerzen bereiten. „Oh Gott!“ Wie gerne hätte sie ihrer Familie all das hier erspart.
Es wäre besser, sie würden nicht kommen. Besser für wen? Geht es mir wirklich um Frank und die Kinder? Oder ist es nicht eher so, dass ich diese besorgten Blicke nicht ertragen kann? „Können sie mir nicht wenigstens das ersparen?“, flüsterte sie. Gleich darauf schämte sie sich ihrer egoistischen Gedanken.
Morgen werden die Ärzte mich operieren. Sie werden die Kalotte öffnen. Diesen Namen hatte sie sich gemerkt. Er klang irgendwie harmloser als Schädelknochen. Darunter stößt man auf die so genannte Duva, die harte Hirnhaut. Erst nach deren öffnen sieht man die Hirnoberfläche und den Tumor. Eine schaurige Vorstellung. Besonders die, dass sie dann in meinem Hirn herumwühlen, wie in einem Suppentopf. Na ja, ganz so wird es wohl nicht sein. Sie werden das Ding vorsichtig herausschälen, anschließend die harte Hirnhaut wasserdicht verschließen und das Kalottenstück wiedereinsetzen.
Eine Sache bereitete ihr allerdings Sorgen. Die Tatsache, dass gesunde Teile ihres Hirns verletzt werden könnten. Es wäre dann möglich, dass sie dabei „nur“ ihre Erinnerung verlor. Unter Umständen konnte sie sich aber nicht mehr bewegen und musste umsorgt werden wie ein Kleinkind. Es konnte sogar noch schlimmer kommen – sie könnte ins Koma fallen oder gar sterben. Wobei sich die Frage stellte, ob Letzteres wirklich das Schlimmste wäre.
Egal, was die Ärzte auch sagten, eines schien sicher, ihr Leben würde nie mehr sein wie zuvor.
Als sie erneut einen Blick auf das Tagebuch warf, glaubte sie ein leises Flüstern zu hören. „Du hast das Heute und heute hast du auch noch ein Gestern. Ob es ein Morgen für dich geben wird, weißt du nicht und wenn, gibt es morgen vielleicht kein Gestern mehr.“